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"Channel rim" Walze der United States Marine Band von 1891 mit Papierring
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Starkton
Fr Feb 20 2015, 16:02 Druck Ansicht
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Beiträge: 1881
Anfang der 1890er Jahre gab es in den USA praktisch keine Phonographen in Privatbesitz. Einige kamen als Diktiergerät in Büros zum Einsatz, in zunehmender Zahl steckten sie jedoch in über das ganze Land verteilten Geldeinwurfgeräten. Diese Geräte wurden von Gesellschaften aufgestellt, welche sich das alleinige Vertriebsrecht für einen oder mehrere Bundesstaaten teuer von der North American Phonograph Company (NAPCo.) als Besitzer von Edisons Phonographenpatenten gekauft hatten.

Mit Geldeinwurfgeräten ließ sich richtig Umsatz machen, deshalb gierten die Gesellschaften nach ständig neuen Walzen mit aktuellen Schlagern. Da es so etwas lange nicht zu kaufen gab, hatten sich einige selbst auf bestimmte Tonaufnahmen spezialisiert, die Columbia Phonograph Company zum Beispiel auf Stücke der im ganzen Land bekannten und beliebten United States Marine Band. Da niemand sonst in ihrem Territorium kommerzielle Aufnahmen machen durfte verstand sich die Columbia auch als exklusiver Vermarkter dieser Band.

Im Sommer 1891 war die Technik der Dupliziermaschinen genügend ausgereift für die Massenherstellung von Duplikatwalzen. Darauf hatten alle nur gewartet: die Columbia ließ die U.S. Marine Band von fünf bis zehn Phonographen gleichzeitig aufnehmen, sandte einen Teil der daraus resultierenden Originalaufnahmen als Masterwalzen an die Edison Phonograph Works (EPW) und bestellte (und bezahlte) bei der NAPCo. Duplikatwalzen. Diese informierte wiederum die EPW, dass sie die entsprechende Anzahl Duplikate herstellen und an die Columbia senden dürfe. Die Columbia verkaufte diese Duplikate dann mit gutem Gewinn an die anderen Gesellschaften. Originalaufnahmen waren auch zu haben wenn man optimale Klangqualität wollte, allerdings mit deutlichem Preisaufschlag.

Die EPW stellten auf ihren zunächst vier Dupliziermaschinen pro Tag je 40 Walzen her, insgesamt also 160 Stück. Dass sich damit ein gutes Geschäft machen ließ blieb Edison nicht verborgen, deshalb produzierten die EPW zwischen Sommer 1891 und Ende 1892 auch Duplikate von im Edison Studio aufgenommenen Walzen. Diese Duplikate trugen eine charakteristische Riefe an einem Ende, genannt "channel rim", zum Aufkleben eines Papierrings welcher in der Funktion eines Labels mit Informationen zur Tonaufnahme bedruckt war.

Die EPW sandten einen ersten kleinen Verkaufskatalog mit eigenen Walzen am 19. August 1891 an die Phonographengesellschaften und baten dabei um Vorschläge für zukünftige Titel. Es zeigte sich schnell, dass Aufnahmen der United States Marine Band besonders gefragt waren. Die EPW beschafften sich deshalb im Oktober 1891 über einen Strohmann dreiunddreißig Originalaufnahmen direkt von der Columbia Phonograph Co., duplizierten sie, und boten viele davon in ihrem zweiten Katalog von Ende 1891/Anfang 1892 an. Darunter waren auch achtzehn Aufnahmen der U.S. Marine Band. Die Columbia beschwerte sich natürlich, hatte aber keine Chance, weil Edison das Recht auf Duplizierung jeder beliebigen Aufnahme besaß.

Eine dieser von den EPW angebotenen U.S. Marine Band Walzen von 1891 befindet sich in meiner Sammlung. Leider wurde die Walze abgeschliffen und trägt heute zwei Klavierstücke mit einer Ansage dazwischen. Ein Ragtime und ein Stück, das eher zu einem Charleston passt, vermutlich also aus den 20er Jahren, aber Norman und ich forschen noch.

Zum Glück ist der Papierring zur Identifikation erhalten geblieben. Das Papier und der verwendete Klebstoff wurden im Laufe der Zeit brüchig, deshalb gibt es nur noch ganz wenige Walzen mit ihren originalen Papierringen.



Hier ist ein Auszug aus dem oben angesprochenen Walzenkatalog der Edison Phonograph Works. Das "Mikado Medley" befindet sich auf der linken Seite an Position 8 der U.S. Marine Band Walzen. Witzigerweise ist sie im Katalog abgehakt und damit eine von 25 Walzen, die sich der unbekannte Besitzer des Katalogs in seiner Bestellung vom 22. Februar 1892 zuschicken ließ.



Bis Ende 1892, danach wurden sie nicht mehr hergestellt, gab es wohl auch unbespielte Walzen mit "channel rim", aber ohne Papierring, für Eigenaufnahmen der Aussteller zu kaufen. Man erkennt sie heute unter anderem daran, dass sich keine Klebstoffreste in der Riefe befinden. Auf der unten abgebildeten Walze hört man einen Witz in deutscher Sprache, welcher damals eindeutig religiöse und sittliche Gefühle verletzte. Es beginnt mit der Schöpfungsgeschichte und endet damit, dass Adam, der sich gerade auf Eva befindet ohne zu wissen was er da soll, ein glühendes Stück Kohle auf den Hintern fällt ...

Einige Aussteller hatten keine Hemmungen auch vulgäre und obszöne Walzen in ihren Geldeinwurfgeräten abzuspielen. Das Geschäft war einträglich, wurde aber immer gefährlicher, nachdem Privatdetektive im Auftrag des sittenstrengen Politikers Anthony Comstock seit 1894 das ganze Land danach absuchten und solche Walzen Stück für Stück zerstörten. Zu diesem Thema ist 2007 eine CD mit entsprechenden Klangbeispielen erschienen, welche für zwei Grammy Awards nominiert wurde: Link - Hier klicken



Es folgt ein Bild mit zwei Dupliziermaschinen aus dem Bettini Labor in New York, allerdings erst von 1899.




[ Bearbeitet Mi Feb 25 2015, 18:38 ]
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GrammophonTeam
Fr Feb 20 2015, 17:15
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⇒ Mitglied seit ⇐: So Sep 04 2011, 14:54
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Beiträge: 1825


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alang
Fr Feb 20 2015, 17:16
⇒ Mitglied seit ⇐: Di Jun 12 2012, 19:52
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Beiträge: 657
Toller Fund mit sehr interessanter Geschichte. Ich kann mir vorstellen, dass einem da vieles durch den Kopf geht. Soll man aus historischer Sicht besser versuchen, eine Kopie der Originalaufnahme auf die Walze zu schneiden, oder soll man besser die historischen aber spaeteren inkorrekten Aufnahmen drauflassen? Restoration oder lieber das historisch gewachsene erhalten? Ich glaube es gibt jede Menge Argumente fuer beide Optionen. Was denkst Du?

Andreas
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Starkton
Sa Feb 21 2015, 11:58
⇒ Mitglied seit ⇐: Mi Okt 05 2011, 21:47
Wohnort: Berlin
Beiträge: 1881
Hallo Andreas,

solche Gedanken können einem schon durch den Kopf schießen, denn technisch wäre es kein Problem. Allerdings müsste man dafür die Originalwalze erneut abdrehen. Durch den damit verbundenen Materialverlust wäre es noch offensichtlicher, dass man einen "shaved cylinder" vor sich hat. Vergleiche mal den Wulst an der Außenkante der Papierringwalze mit dem wesentlich breiteren der (vermutlich) nicht abgedrehte Walze ohne Papierring. Ganz abgesehen davon, dass man die historisch ebenfalls interessante Neubespielung durch einen sehr fähigen Pianisten zerstören würde, wäre das Erscheinungsbild nicht mit einer Walze im Originalzustand zusammenzubringen.

Aus der Zeit zwischen 1889 und 1892 sind in den öffentlichen und privaten Sammlungen weltweit (geschätzt) nur etwa zwanzig Walzen mit Aufnahmen der Columbia Phonograph Co. erhalten geblieben. Im Zustand von kaum abspielbar bis gut. Von drei Titeln davon weiß ich, dass sie im obigen Katalog der Edison Phonograph Works auftauchen, theoretisch also auch auf Walzen mit Papierring vorliegen könnten.

Ich wüsste allerdings nicht, dass eine Walze mit dem "Mikado Medley" aus dieser Zeit jemals aufgetaucht wäre. Damit ist das Neubespielen ohnehin illusorisch. Übrigens, selbst wenn man den Titel findet kann man nicht davon ausgehen, dass der Zustand makellos ist. Die gehörten Rillendefekte müssten jedoch zum physischen Erscheinungsbild des frisch geschnittenen Duplikats passen, sonst fällt es sofort auf. Eine komplette Neubespielung mit selbst gesprochener Ansage wäre natürlich komplett daneben, auch wenn es sich vielleicht recht überzeugend machen ließe.

Eine "Papierring"-Walze ist mit und ohne Originalbespielung so selten wie die sprichwörtlichen Hühnerzähne. Ich habe jahrelang nach einer bezahlbaren gesucht. Vor allem wegen der Optik, der Ring ist halt eines der ersten Labels auf einem Tonträger überhaupt und beim Angucken in der Vitrine zählt der Ton ja nicht. Bei einer Walze der U.S.Marine Band mit abspielbarem Originaltitel wäre kein Rankommen für mich möglich gewesen. Es gibt einfach genügend Sammler mit Geld für sowas. Deshalb bin ich zufrieden wie es jetzt ist.

Stephan
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alang
Sa Feb 21 2015, 17:41
⇒ Mitglied seit ⇐: Di Jun 12 2012, 19:52
Wohnort: Delaware, USA
Beiträge: 657
Hallo Stephan,

Das war mir nicht klar, dass die Walze so selten ist, dass nicht einmal eine andere Aufnahme des Titels vorliegt. Da ist es natuerlich doppelt schade, dass sie ueberspielt wurde. Andererseits wuerde man die Walze dann sowieso nie abspielen und zum Anschauen macht es keinen Unterschied wie Du sagst. Nochmals herzlichen Glueckwunsch zu diesem aussergewoehnlichen Fund.

Andreas
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HGN
Sa Feb 21 2015, 19:40
⇒ Mitglied seit ⇐: Fr Dez 30 2011, 13:30
Wohnort: Hellerup bei Kopenhagen
Beiträge: 113
Super, Starkton.
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