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Die Schallplatten des letzten Kastraten im Vatikan: Alessandro Moreschi
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Starkton
Sa Apr 06 2013, 15:26 Druck Ansicht
⇒ Mitglied seit ⇐: Mi Okt 05 2011, 21:47
Wohnort: Berlin
Beiträge: 1881
Alessandro Nilo Angelo Moreschi (1858 - 1922) war seit 1883 päpstlicher Sänger der Sixtinischen Kapelle im Vatikan und der einzigen Kastrat, dessen Soloaufnahmen überliefert sind. Als letzter Überlebende einer Tradition, die mit ihm nach 350 Jahren abriss, führen uns seine Schallplatten von 1902 und 1904 weit in die Vergangenheit zurück.

Diese zeitgenössische Illustration zeigt die Anordung des Aufnahmetrichters, des Chorleiters und der Chorsänger im April 1904 im Vatikan.



Die erstaunliche Qualität von Moreschis Stimme erschließt sich nicht von selbst. Sie ist von der heutigen Hörerfahrung so weit entfernt wie die Pekingoper, was den Zuhörer ganz unerwartet trifft. Sie löst deshalb zunächst Irritationen aus und wird in der Folge als schlecht abqualifiziert oder der Lächerlichkeit preis gegeben.

Um die Schallplatten der letzten Kastraten, neben dem Solisten Moreschi sind die Chormitglieder Domenico Salvatori (1855-1909) und Vincenzo Sebastianelli (1851-1919), sowie eventuell Giovanni Cesari (1843-1904) und Giosafat Vissani (1841-?1904) aufgenommen worden, mit "anderen Ohren" zu hören und besser würdigen zu können, folgt deshalb eine kleine Einleitung.

Kastraten sind musiktechnisch gesehen Tenöre die unfassbar hoch singen. Sie können mit ihrer Sprechstimme, das heißt ohne große Anstrengung, bereits eine Oktave höher als Tenöre singen und die Töne dabei sehr lange halten. Durch die Kastration im Alter von knapp zehn Jahren wird die körperliche Entwicklung teilweise verzögert. Die Knabenstimme und der flexible Vokaltrakt bleiben erhalten, sind aber nun mit dem Lungenvolumen eines stark vergrößerten und überdurchschnittlich flexiblen Brustkorbs (typisch für Kastraten), sowie der Gesangskraft eines erwachsenen Mannes kombiniert. Hinzu kommt das jahrelange, harte Training.

Moreschis Stimme reichte in ihrer Glanzzeit über zweieinhalb Oktaven und wird von Zeitzeugen als überaus kräftig, kristallklar, absolut stabil sowie mit betörend süßem Ton geschildert. Keine Knaben- oder Frauenstimme kam dem "Engel von Rom," wie er genannt wurde, gleich.

Bereits zur Zeit seiner Geburt geriet die Kunst der Kastraten zunehmend in Vergessenheit und als er 1883 in den Chor der Sixtinischen Kapelle eintrat, hatte diese sich bereits seit fast einem Jahrhundert von der musikalischen Entwicklung außerhalb der hohen Mauern des Vatikans abgekoppelt. Moreschi verwendete deshalb Techniken wie Schluchzer und schleifende Verbindungen zwischen höheren und tieferen Tönen, die vor 200 Jahren gebräuchlich waren, uns heute aber vollkommen irritieren. Was wir als schwankendes, nach Luft schnappendes "Jodeln" mit unterbrochenen Tönen und unpräzisem Stimmeinsatz wahrnehmen, ist nicht etwa schlecht gesungen, sondern stilistisches Element, das zudem auf die Raumakustik in Kirchenschiffen abgestimmt war. Kastratengesang war damals Kirchengesang.

Hinzu kommt, dass der Mitte Vierzigjährige durch die zwar verzögerte, aber dennoch nach und nach einsetzende körperliche "Nachreifung," Teile seiner Stimme verlor. Sie hatte durch die zunehmende Verknöcherung des Kehlkopfes und des Brustkorbs bereits 1902 einen eingeschränkten Tonumfang und war in den hohen Lagen auch nicht mehr so mühelos und stabil. Schon zehn Jahre nach seinen Tonaufnahmen konnte Moreschi deshalb nur noch in der Mittellage gut singen.

Bei den ersten Aufnahmesitzungen Anfang April 1902 war Moreschi offenbar sehr nervös aufgrund der ungewohnten Situation vor dem Schalltrichter und machte deshalb erstaunlich viele Fehler. Die Aufnahmen zwei Jahre später zeigen ihn in wesentlich besserer Form.

Dennoch ist das was man auf den Platten hört nur ein schwacher und verzerrter Abglanz seiner tatsächlichen Stimme. Der Grund dafür liegt in der Aufnahmetechnik. Hohe Frequenzen wurden schlechter überspielt. Gerade dieser Bereich ist für die Beurteilung der Stimme eines Kastraten jedoch entscheidend. Hinzu kommt (wichtig!) der fehlende Nachhall, das Echo der relativ kahlen und hohen Wände und Decken des Kirchenschiffs. Genau dafür war Moreschis Gesangsstil jedoch perfektioniert. Der Aufnahmetrichter war damals nicht in der Lage so etwas einzufangen. Eventuell ließe sich durch tontechnische Nachbearbeitung an dieser Stelle etwas verbessern.

Das alles muss man also bedenken wenn man sich die Aufnahmen anhört. Dennoch bin ich sehr froh, dass es diese Platten überhaupt gibt. Zum Einstieg empfehle ich mein Lieblingsstück von Moreschi, Paolo Tostis Preghiera. Es wurde im April 1904 aufgenommen. Ganz am Ende, ausgerechnet beim ausklingenden hohen G (eine schwierige Gesangstechnik für die Moreschi damals berühmt war), hört man wie seine Stimme kurz bricht. Dieser Fehler in seiner Paradedisziplin muss Moreschi besonders geärgert haben.



Viele von Moreschis Aufnahmen blieben recht lange im Katalog und sind in mehreren Ländern gepresst und verkauft worden. Vor allem Nachpressungen mit dem reich verzierten, schwarzen G&T Etikett, sowie Platten auf dem amerikanischen Victor Label werden gelegentlich ab etwa 50 Euro angeboten.

G&T Pressungen mit rotem Etikett sind da schon wesentlich ungewöhnlicher, und wenn es auch noch die Erstauflage einer der seltensten Moreschis ist, dann greift man zu, auch wenn sie so unansehnlich aussieht wie das folgende Exemplar. Die Platte war völlig verdreckt und lag offenbar über Jahrzehnte in einem Stapel mit anderen um die es nicht besser stand. Das Label ist deshalb praktisch unleserlich abgerubbelt. Nach der gründlichen Reinigung kommt die Stimme aber erstaunlich gut und unverzerrt rüber. Sie klingt auch um einiges kräftiger als auf youtube.

Die Platte mit Moreschi als Solist mit Chor und Klavierbegleitung, Domine salvum fac Pontificem nostrum Leonem von Giovanni Aldega (G&T 54766, mx. 1758 nB), wurde Anfang April 1902 von Fred Gaisberg aufgenommen.





Moreschi war nicht nur der Solist, sondern, zumindest bei den Aufnahmen von 1902, auch der Chorleiter. Er ist deshalb virtuell auf folgender Platte enthalten, obwohl er nicht mitsingt. Im Chor singen, deutlich heraus zu hören, die anderen damals noch aktiven Kastraten. Ich habe sie am Beginn meines Beitrages aufgelistet. Leider habe ich zur folgenden Platte (Stamper II, mx. 1761) kein Tonbeispiel im Internet gefunden.


Epilog:
Als Francesco Tamagno der berühmte, früh verstorben, italienische Tenor, sich als Teil seines Exklusivvertrages mit der Grammophongesellschaft Anfang 1903 einige Platten aus deren Katalog aussuchen durfte, wählte er sechs von Caruso, eine von De Lucia und eine von Moreschi!

[ Bearbeitet So Feb 11 2018, 13:47 ]
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Barnabás
Sa Apr 06 2013, 15:31
⇒ Mitglied seit ⇐: Mi Jul 04 2012, 20:37
Beiträge: 651
Eine wirklich toll und aufwendige Arbeit!!!!!
So macht das Forum erst richtig Spass.

Gruss von Baum zu Baum
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Willi-H-411
Sa Apr 06 2013, 18:34
⇒ Mitglied seit ⇐: Mi Okt 12 2011, 11:42
Wohnort: Ruhrpott
Beiträge: 1296
Sehr guter Artikel.

Auch wenn es mir immer graut, wenn ich daran denke, daß dafür kleine Jungs entmannt wurden. Ganz zu schweigen davon, daß es ja nur relativ wenige zu einer Sängerkarriere geschafft haben.

Davon abgesehen, gefällt mir dieses Stück besonders gut:

Oremus pro Pontefice



VG Willi
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Aristodemo
Sa Apr 06 2013, 20:07
⇒ Mitglied seit ⇐: Sa Jan 21 2012, 01:07
Beiträge: 426



Hier die Seite aus dem "Red-Seal" Katalog der GRAMMOPHON.
Zu dem Artikel möchte ich nur noch hinzufügen, daß die meisten der 1902/1904 aufgenommenen Stücke im Kirchenraum nicht mehr erklingen durften. Seine Heiligkeit Pius X hatte sie in seinen motu proprio über die Kirchenmusik als zu weltlich und daher unstatthaft für den Gebrauch im Gottesdienst erklärt. Gregorianischer Choral galt als DAS Ideal, allenfalls noch Palestrina.
Zwei Beispiele der Choraufnahmen aus meiner Sammlung, schon doppelseitig mit dem "Canto gregoriano"-Etikett





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Starkton
Sa Apr 06 2013, 21:13
⇒ Mitglied seit ⇐: Mi Okt 05 2011, 21:47
Wohnort: Berlin
Beiträge: 1881
Aristodemo schrieb ...

Zu dem Artikel möchte ich nur noch hinzufügen, daß die meisten der 1902/1904 aufgenommenen Stücke im Kirchenraum nicht mehr erklingen durften.

Das gilt aber wirklich nur für die Aufnahmen mit "moderner" Musik (d.h. nach 1600) der Cappella Sistina. Der entsprechende Papstbrief trat am 22. Juni 1905 in Kraft. Ausserhalb des Vatikans werden sich nicht allzuviele daran gehalten haben. Ich war jahrelang Ministrant in einer wunderschönen oberbayrischen Barockkirche und kann mich nicht an viele gregorianische Gesänge erinnern ;)

Drei Viertel der Aufnahmen von 1904 entstanden jedoch mit ausdrücklicher Billigung des Papstes um die neue Lehre zu verbreiten. Diese Platten tauchen deshalb heute vergleichsweise häufig auf.
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