Ende des Walzer Jahrhunderts - SYNKOPEN-TÄNZE



BEDEUTUNGSELEMENTE


Zusammenfassend seien einige Aspekte der neuen Tänze und ihrer Musik vom amerikanischen Kontinent akzentuiert.

1. Die neuen Tänze haben oft einen ausgeprägten Hang zur selbstreferentiellen Propaganda, fast hysterisch loben sie sich selbst, betonen ihre Notwendigkeit und ihre gewaltigen Leistungen. Stolz auf die Moderne, auf ihre Errungenschaften auch im Bereich der Unterhaltung prägt die Botschaften der Unterhaltungsindustrie; dieses unterschwellige kommerzielle Selbstbewußtsein verweist auf den engen Zusammenhang von Werbung für sich und Affirmation des gesellschaftlichen Umfelds, das diese Unterhaltungspraxis ermöglicht und hervorbringt. Letzteres wird zwar dynamisch beschrieben, jedoch im Sinne einer hysterischen Weiterentwicklung durch die moderne Unterhaltungswarenwelt.

1897 Kerry Mills: "At a Georgia Campmeeting"
1898 Will Marion Cook: "Clorindy - The origin of the Cake Walk" (Musical)
1912 Jean Gilbert: "Two Step schiebt man heut", aus der Posse: "Autoliebchen"
1913 Jean Gilbert: "Ich tanz' so gern den Tango", aus der Posse "Die Tango-Prinzessin"
1914 Hugo Hirsch: "Mit Tango fängt man kleine Mädchen ein"
W. Aletter/Theo Oppermann: "Der Wackeltanz"
Wo man hinkommt heutzutage, Ballhaus oder Halensee, Neukölln oder Hasenheide,
draußen an der Oberspree, überall an allen Orten und ein Jeder einz'ge kann's,
hört und sieht man jetzt den schönen und beliebten Wackeltanz.
Fängt die Musik zu spielen an, dann singt gleich Jedermann:
Komm, mein kleiner Schnackelfranz, tanzen wir mal Wackeltanz,
komm mein Schatz, nicht lang gefackelt, immer feste los gewackelt.
Komm, mein kleiner Schnackelfranz, tanzen wir mal Wackeltanz,
einmal hin und einmal her, siehste wohl das ist nicht schwer.


2. Das Lob der Moderne, der Jubel über die neue Zeit scheint bestimmte Sektoren des populären Lieds der Gründerzeit zu bestimmen. Gerade auch mit den amerikanischen Botschaften lassen sich solche Neuerungen verbinden: Da gibt es immer mal wieder den Freudentaumel um die Errungenschaften der modernen Technik, sei es das Automobil (Thurbans "Schatzerl") oder das Tandem (Dacre's Tandem-Walzer Daisy), das Flugzeug (Flieg, du kleine Rumpler-Taube, flieg in meine Wolkenlaube, aus: Jean Gilbert, "Puppchen", 1912) oder atemberaubende Reisen (Jean Gilbert: "Die Reise um die Erde in 40 Tagen", 1913) und die neue Sensation Kino (Jean Gilbert: "Die Kino-Königin", 1913; Walter Kollo: "Filmzauber", 1913). Auch die Telekommunikation gelangt zu musikalischen Ehren: I guess, I have to telegraph my baby, Coon Song (Text und Musik: Geo M. Cohan, 1898); oder den Song: Hello, ma baby, Ragtime-March und Schottische, Text/Musik: Howard & Emerson, 1899. Die Liste läßt sich beliebig erweitern. Die moderne amerikanische Unterhaltungsmusik fügt sich nahtlos ein in das Geflecht von Technologieentwicklung, Kommunikation, Handel und Unterhaltungindustrie.

3. Mit den neuen Tänzen verändern sich auch die Umgangsweisen. Es entsteht sozusagen eine eigene Tanzkultur, die gepflegte Freizeitunterhaltung mit der spezifischen Kommunikationskultur der Snobs und Dandys männlicher und weiblicher Ausführung verbindet. Diesem Netzwerk gehören Musik, Tanzformen, Mode, Verhaltensstile und andere Elemente an und bedingen einander. Das gesellschaftlich Wirksame dieses Tanzmilieus besteht wohl in einer Struktur sozialer Distinktion.

Tanzen im Café wird ermöglicht, eine Tanzfläche entsteht, Tangotees finden statt, Tangobälle und andere modische Veranstaltungsformen bieten die Gelegenheit zur Präsentation von (teilweise einfach tanztechnisch notwendigen) Tangokleidern und Tangofrisuren.

Es gibt Wettbewerbe und Tanzturniere (z.B. Dezember 1907 in Nizza für den neuen Tango), Tanzlehrer unterrichten die Modetänze, Hotels stellen Tanzlehrer ein zur Unterrichtung ihrer Gäste. Mit dem "Tangozug" kann man stilsicher aus Paris nach dem feinen Deauville fahren.

Und es entstehen Tanzlokale, in Berlin u.a. etwa 1912 das "Palais de Danse", in dem moderne Tanzkapellen moderne Tänze anbieten.

4. Nur sehr zwiespältig läßt sich die Frage der "Demokratisierung" durch das neue Tanz- und Musikgeschehen beantworten. Die kommerziell bedingte tendenzielle Breite der Zugangsmöglichkeiten zum Unterhaltungsgeschehen kann nur als triviales Argument gelten. Das Angebot ist real breit und für jeden abrufbar, dies jedoch nur theoretisch. Wie bereits oben angeführt, wirken bei vielen neuen Tänzen und Musiken die sozialen Distinktionsmechanismen. Dies betrifft die Nutzungsorte, die zur Verfügung stehenden Musiker, die Schwierigkeit der Tänze, die sozialen Hierarchien, verfügbare Technologien (Grammophon) u.a.m.

Praktisch jedoch erobert sich die breite Masse der Nutzer - wie stets in der Geschichte (etwa beim Walzer) - durch die ihr gegebenen Möglichkeiten in spezifischer Weise die Gegenwart. Denn natürlich gilt auch für die Masse der unteren Schichten, daß die traditionellen Musik- und Tanzgewohnheiten verblassen und neue Moden auftauchen. Was durch Twostep und Onestep aus Amerika kommt, läßt sich tatsächlich übernehmen, es ist einfach zu imitieren. So kommen die "Schiebe- und Wackeltänze" hoch, musikalisch entweder leicht afro-amerikanisch eingefärbt (synkopierte Elemente bei Originalimporten) oder nur einfach tagesaktuelle Tanzlied-Musik europäischer (oder auch amerikanischer) Herkunft.

5. Die Spezifik des neuen Tanzens weist neben ihrer Vorwärtsrichtung - im Gegensatz zur alten Drehung (Walzer) oder zum geordneten Tanzspiel (wie Quadrille) - auch neue Eigenschaften auf, wie beispielsweise die stärkere Betonung des Aspekts Erotik. Obwohl dies etwas schwierig zu beurteilen ist, da etwa der Walzer in dieser Hinsicht historisch auch gut mithalten kann. Tango wäre hier vor allem zu nennen, aber auch die "Schiebe- und Wackeltänze" (auch auf sie richten sich die erheblichen Vorbehalte der offiziellen Moralwächter): bei diesen Tänzen scheint die Symbolisierung des Geschlechtsakts - so legen es zumindest die Reaktionen von manchen Rezipienten und Tanzautoren nahe [Eichstedt/Polster, a.a.O., S.31] - ein wichtiger Gehalt der Tanzaussage zu sein. Und sie signalisieren einen gewissen Sieg der Tanzpraxis der unteren Schichten, die ihre Ansprüche und Motivationen des gemeinsamen Tanzens auf die feineren amerikanischen Originale des Two Step und One Step übertragen und deutlich ihren Interessen anpassen.

Manche der neuen Tänze haben einen pantomimisch-imitatorischen Ansatz, so die diversen Tier-Trots, aber auch der Cakewalk. Eine regelrechte Tierepidemie bestimmt die Tanzerfindungen in der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts: als Varianten des One Step gibt es vor 1914 u.a.: Bunny Hug, Judy Walk, Turkey Trot, Grizzly Bear, Cat Step, Fish Tail, Bullfrog Hop, Eagle Rock. Tanzen auf der Stelle - also heftige und charakteristische Körperbewegungen - ist bei derartigen Tänzen häufig notwendig. Und generell scheint sich als Trend abzuzeichnen, mehr Raum für Improvisation und individuellere Tanzausführungen zu ermöglichen, d.h. die Schritt-Anwendungen und -Kombinationen bleiben der individuellen Entscheidung überlassen.

Der Tanzschriftsteller Koebner schreibt 1913:

"Der große Unterschied der heutigen Tanzkunst von der früherer Jahre ist folgender: man ist musikalischer geworden. Man behandelt die einzelnen Tänze nicht mehr schematisch, sondern individuell - man tanzt ausgesprochen nach der Musik und nützt jede Nuance der Melodien aus. So ist das Tanzbild von 1913/14 ein wesentlich erfreulicheres geworden, als es vor Jahren war. Der heutige Tanzkünstler erstrebt als erstes Ziel völlige Ruhe, was der Uebergang vom Two step zum One step und von diesem zum Rag beweist - die Tänze mit den unruhigsten Schritten müssen am ruhigsten und sichersten wirken. Schon aus diesem Grund erhellt, daß die "Wackeltänze" von jeher nur Ausgeburten der erregten Phantasie von Nichttänzern gewesen sind."[Koebner/Leonard, a.a.O., S. 28]


6. W.K. von Jolizza, ein Wiener Tanzlehrer, beschreibt 1907 in "Die Schule des Tanzes" genau die Schritte des Cake Walk und meint:

"Dieser groteske, aus Amerika stammende Tanz, der entschieden mehr Anspruch auf Originalität als auf Schönheit machen kann, hat unbegreiflicherweise in allen Salons Einzug gefunden und sich auch schon über ganz Europa verbreitet. Einem Negertanz nachgebildet, liegt heut noch der Hauptreiz des Cakewalk in dessen charakteristischen Posen, während die plumpen Schritte und grotesken Sprünge der Neger größtenteils durch moderne Tanzschritte ersetzt wurden." [Zitiert nach Günther: Tänze und Riten ...., S. 109]


Also: der Tanz benötigte dringend Nachhilfe in Sachen Originalität und Schönheit, die Plumpheit seines schwarzen Urbilds erfordere unbedingt eine Modernisierung.

Bei allem Enthusiasmus für die afro-amerikanischen Tanz- und Musikbotschaften: im Grunde bleibt die europäische Rezeption der Schwarzen in der Musik weitgehend geprägt von einem mehr oder weniger offenen Rassismus, durchsetzt von dieser seltsamen Ambivalenz von Bewunderung urtümlicher, animalischer Vitalität und dem Bild einer restringierten Persönlichkeit, gesehen aus der herablassenden Perspektive des mächtigen Kolonial-Herrenmenschen.

Beispiele gibt es viele:
1903 Vollstedt, Robert: Eine fidele Negerhochzeit, op.215.
ca. 1907 Rudolf Nelson: Meine kleine Braune ( Text: Herman Klink), geschrieben für das Cabaret "Chat Noir"
1911 Das Potpourri "Metropolitana" von Otto Brinkmann enthält von Maurice Scott: "Nigger und Mädel" (weißes Mädel sieht Afrikaner, ist begeistert und heiratet ihn; Musik harmloses Polka- oder Rheinländer-Getrappel, keine afro-amerikanischen Elemente).
1912 Berlin wackelt, Potpourri von Camillo Morena, op.123, 1912, enthält als Nr.4 "Kitty" (Twostep), d.i. Harry Waldens Niggerständchen aus "Sein Herzensjunge" von Walter Kollo (wobei die Artikulation von "Kitty" stets Anlaß zu einer Synkope bietet und dies als das "Niggerische" anzusehen ist); als Nr. 15 "Down in Jungle Town" von Theo F. Morse, 1908.
1913 "Malongo vom Kongo", Tanz-Duett aus der Revue "Chauffeur! Ins Metropol!" von Rudolph Nelson. (Der Neger Malongo erwartet mit seiner Frau den Berliner Schieber (!) in Neu Kamerun.) Eine Ausnahme stellt das in Deutschland recht beliebte Lied "Der Negersklave" von Moritz Peuschel dar, eine sentimentale Schnulze im Gartenlaubenstil mit der bitteren Klage eines schwarzen Sklaven über sein Schicksal - ein Appell an die Tränendrüsen in der Nachfolge von "Onkel Toms Hütte" und zugleich ein Vehikel zum Ausleben moralischer Überlegenheit gegenüber den Sklaven haltenden Ländern.



In den Sujets und Texten der Stücke gibt es häufig überhaupt keine Unterschiede zwischen den Schwarzen in Amerika und denen in Afrika, beide Situationen werden bunt, oberflächlich-karikierend durcheinander gewürfelt. Noch scheint die bösartig-rassistische Komponente undeutlich.

Erst in den 20er Jahren entsteht ein starkes und von Bewunderung getragenes Interesse an schwarzer Kultur bei vielen jungen Künstlern, die den zivilisatorisch reduzierten Europäer und seine künstlerischen Hervorbringungen für renovierungsbedürftig halten. Die Deutlichkeit und Stärke dieser Position ruft in der Weimarer Republik notwendigerweise den Widerstand der Konservativen und Nationalisten hervor.

Vor dem 1. Weltkrieg war man von seiner eigenen Bedeutung völlig überzeugt, glaubte, den fortgeschrittensten Stand menschlicher Entwicklung zu repräsentieren und verstand afrikanische und afro-amerikanische Kultur als exotisches Genußmittel, als Gebrauchselement eines gehobenen, international orientierten Lebensstils.

Quelle: Fred Ritzel Link - Hier klicken
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