Eric Borchard und seine Jazzband...




c. 1925/26


Wenn auch keine weiteren Plattenaufnahmen mehr entstanden, das Jahr 1926 verlief ebenso erfolgreich weiter. Borchard gab 1931 selber in einem Interview an, alleine seine Einnahmen aus einer Saison damals hätten gereicht um sich zur Ruhe setzen zu können. Dies tat Borchard jedoch nicht... Wir wissen nicht, ab wann genau Borchards Abhängigkeit von Morphium begann, ab Mitte der zwanziger Jahre war sie für sein direktes Umfeld jedenfalls wahrnehmbar. Sicherlich "fraß" seine Sucht einen beträchtlichen Teil der Einnahmen wieder auf.

Noch aber stand Borchard im Rampenlicht. Neben regelmäßigen Auftritten war sein Orchester auch im Rundfunk zu hören. Im April 1927 trat Borchard eine heute fast vergessene Reise in die USA an (ohne Orchester).
Passagierliste (Auszug) zu seiner Einreise in die USA, April 1927




Der Grund seiner Reise: Er suchte (Jazz) Sänger und Musiker für sein Orchester in Deutschland! Seine "Suche" in New York fand die New York Times anscheinend so außergewöhnlich, das es der Zeitung einen kurzen Artikel wert war.
German Coming to Seek Jazz Singers Here To Satisfy Crace Started by Phonograph


Berlin, April 7: With the aim of introducing American "vocal jazz" in Germany, Eric Borchard, the foremost German exponent of instrumental jazz, left here today for Bremen to embark on the Unites States liner Republic for New York. "The Germans are wild about American jazz singing, and so far they have it only on the phonograph", he added. "I am going to bring them the best quartet the United States can provide, as well as a brand new American band. Europe has leraned a lot about jazz, but the best instrumentalists, as well as the best singers are still in the land of its birth"

Herr Borchard, who played for American soldiers in home camps during the war and later on the Rhine, means to consult Paul Whiteman, whom he smilingly calls "the Borchard of America," and Irving Berlin about his project.
8. April 1927


Zusammenfassend: Angeregt durch den Erfolg von "negro quartets" (gemeint sind hier vermutlich die Revelers) auf Schallplatte auch in Deutschland, ist er eben nun auch auf der Suche nach ähnlichen Vokalgruppen für sein Orchester. (Und dies noch bevor in Deutschland überhaupt jemand an die Comedian Harmonists dachte...) Außerdem wolle er über sein Projekt mit Paul Whiteman (den er den "Borchard von Amerika" nennt) und Irving Berlin sprechen. An Selbstbewusstsein mangelte es ihm zu diesem Zeitpunkt sicherlich nicht!

Aus diesem Projekt wurde bekanntermaßen nichts, jedoch berichtet knapp zwei Wochen später die NY Evening Post sinngemäß: "Eric Borchard, bekannter Jazzorchesterleiter aus Deutschland, engagierte in NY den Pianisten "Mullen"(?) für seine Band in Deutschland. Leider verpassten die beiden knapp das Ablegen ihres Schiffes President Roosevelt. Sie mussten, zur Erheiterung der restlichen Passagiere, mit einem Kutter dem Schiff nach gebracht werden."

Kurz vor seiner Abreise spielte Borchard im Orchester des UFA-Theaters am Kurfürstendamm.




Kritik zu der Aufführung mit Borchard, März 1927




Abgesang 1927 - 1934


Nach seiner Rückkehr aus den USA wurde es in Berlin merklich ruhig um Borchard. Es werden in den Zeitungen kaum noch Auftritte des Orchesters beworben, keine Schallplatten mehr, Borchard spielt immer häufiger im Umland und geht auf ausgedehnte Tourneen, zunächst quer durch Deutschland. Kurzfristig soll es wieder zu einer Zusammenarbeit mit Fred Ross gekommen sein.

1927 in Leipzig


Vielen Dank an Herrn Lotz!


Der Grund lag wohl in seinem immer stärkeren Drogenkonsum und Handel. So berichtete der amerikanische Pianist Edgar Adeler (später selber erfolgreich mit eigenen Orchestern), welcher um 1926/27 bei Borchard arbeitete, der Orchesterleiter habe teilweise während der Vorstellungen - quasi auf "offener Bühne" - an wohlhabende Persönlichkeiten der Gesellschaft Heroin und Kokain verkauft. Borchard wurde wohl in Berlin zur Person non grata, für Veranstalter und Lokalbesitzer nicht mehr tragbar.

Für die Jahre 1928/29 finden sich kaum noch Hinweise auf ein Orchester Borchard in Berlin. Möglicherweise stellte er nur noch für kurzfristige Gastspiele Orchester zusammen. Die "Geldbeschaffung" für seine Abhängigkeit dürfte den breiteren Rahmen eingenommen haben.

Im Sommer und Herbst 1929 hielt sich Borchard überwiegend in Prag auf.


September 1929


Anfang 1930 hat Borchard ein festes Orchester beisammen und geht mit diesem auf eine ausgedehnte Tournee durch Europa, welche ihn bis nach Lettland (!) führt.

Februar 1930 in Riga/Lettland




Riga, 2. April 1930


Im Herbst 1930 ist er wieder in Deutschland, spielt nun aber in Hamburg.

Hamburger Anzeiger, 22 November 1930

Hier lässt sich nur vermuten warum Borchard seine „Rede“ streichen sollte…

In einem Interview für eine amerikanische Zeitung 1931 berichtet er, dass er sein Orchester auflöste und mit seinem Saxophon sowie den Notenblättern (Arrangements) für ein Orchester nach Saarbrücken ging. Er soll hier noch Bekanntschaften aus der Zeit des Krieges (WWI) gehabt haben. Zunächst mietet er sich ein Zimmer, findet dann aber Anstellung in einem Lokal namens Cafe Kiefer mit einer vermutlich kleineren Besetzung. Mit dem Geiger seiner Kapelle, einem gewissen "Hoffmann", soll er sich eine Wohnung in Saarbrücken geteilt haben. Möglicherweise endete im April 1931 das Engagement im Cafe Kiefer, zu einer Abreise kam es jedoch nicht. Eine junge Frau aus dem näheren Umfeld von Borchard starb am 13. April 1931 in seiner Wohnung. Auch möglicherweise, es könnte sich um seine Freundin/Geliebte gehandelt haben.




Veronal war ein damals übliches verschreibungspflichtiges Schlafmittel auf Basis von Barbituraten. Es wurde erst in den 1950er Jahren vom Markt genommen, da es sehr viele Menschen für den Freitod nutzten. Im August 1931 wurde der "Fall Borchard" verhandelt, der Angeklagte der fahrlässigen Tötung (zusammen mit dem Geiger "Hoffmann" aus seiner Kapelle) für schuldig gesprochen, und zu 10 Monaten Gefängnis verurteilt.

Ende August 1931 berichtete über den "Fall" auch eine amerikanische Zeitung. Insgesamt liest sich der Artikel fast so, als ob Borchard "seine Geschichte" der Zeitung verkauft hat...





Hier ergibt sich noch aus dem Urteilsspruch des Richters: Margot Candlier starb an den (stümperhaften) Versuchen Borchards, ihr nach einer Überdosis Tabletten den Magen auszupumpen, durch Ersticken. Der Obduktionsbericht und die Blutanalyse der Verstorbenen ergaben aber auch: Wäre sie nicht an diesem "Rettungsversuch" erstickt, wäre sie an den Folgen der Vergiftung verstorben. Borchard war bis mindestens Mai 1932 in Haft.

Auch wenn die Umschreibung "Klein-Krimineller" rückblickend auf das Leben des Musikers vielleicht sogar etwas schmeichelhaft ist, seine Verwicklung in den Tod eines ihm (in welcher Form auch immer) nahestehenden Menschen, dürfte an Erich Borchardt emotional nicht Spurlos vorbeigegangen sein. Getrieben, seine Sucht finanzieren zu müssen, stellte Borchard kurz nach seiner Entlassung wieder ein Orchester zusammen. Mit diesem trat er im August 1932 u.a. im Cafe Schön in Köln auf.

In Köln


von Links: ?, Jan Meyer, Werner Klein, ?, Emanuele Giudici, Henry Vandenbosch, Eric Borchard, ?, Rolf Goldstein, Jos Verhoeven, Otto Sachsenhauser.


Einer seiner Musiker, der Gitarrist Otto Sachsenhauser berichtete später: "Zusammenarbeit und Alltagsleben mit ihm wurden bisweilen sehr schwierig, aber wenn er zu spielen begann, riss ihn die Liebe zu seiner Musik mit, und es gelang ihm mühelos den Funken auf uns überspringen zu lassen..." (*3)

Noch einmal, vermutlich das letzte Mal in seinem Leben, kam Borchard mit einem (seinem) Orchester nach Berlin.

April 1932





Hier entstanden im September für die kleine Plattenfirma Triton Schallplatten GmbH denkwürdige, fast einzigartige Aufnahmen. Was auf diesen Platten (teilweise Testpressungen) zu hören ist, stellt im Grunde jede andere (Jazz) Kapelle im Sommer 1932 in den Schatten und beweist, fast testamentarisch, die unglaublichen Jazz-Qualitäten dieses Musikers und Orchesterleiters.

Gingen die Discographen lange von einer nur kleinen Serie aus, fand 2010 ein Berliner Sammler aus dem Nachlass des Orchestermitglieds Werner Klein (Trompete & Arrangement) nicht nur eine ganze Reihe an unbekannten Aufnahmen, sondern ebenfalls Testpressungen aus der Aufnahmereihe. Somit sind die bis heute bekannt, letzten Einspielungen Borchards:

  • TRIVA 501 Bugle Call Rag

  • TRITON (Testplatte) Bugle Call Rag

  • TRIVA 501 The One-Man Band

  • TRIVA 502 Bagatelle

  • TRIVA 504 Some of these days

  • TRIVA 506 So küsst man nur in Barcelona

  • TRITON (Testplatte) Some of these days

  • TRITON (Testplatte) Mean Music

  • TRITON (Testplatte) All of me

  • TRITON (Testplatte) Mägdelein sei mein

  • TRITON (Testplatte) Maskenball im Gänsestall

  • TRITON (Testplatte) Hasta la vista

  • TRITON (Testplatte) My favorite band

  • TRITON (Testplatte) Georgia on my mind

  • TRITON (Testplatte) Ein Student geht vorbei

  • DIE GOLDPLATTE 114 Lo-Lo-Lotte

Die meisten der 1932er Aufnahmen sind auf dem Videoportal You Tube zu hören.

Danach drehte sich das Rad für Borchard immer schneller. Er verließ mit seinem Orchester Berlin und reiste zunächst durch Deutschland. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten betrat er Deutschland nicht mehr. Ihm war wohl bewusst, dass einem drogenabhängigen Jazzmusiker hier keine Karriere mehr beschieden sein dürfte... Auftritte noch in Zürich, dann geht er nach Holland. Ob er noch eine Band führte, ist nicht bekannt. In einem Hotel in Amsterdam wird er tot aufgefunden. Nach Untersuchung durch die Polizei konnte keine klare Todesursache ermittelt werden. Möglicherweise starb er durch eigene Hand an einer Überdosis. Genauso denkbar: nach jahrzehntelanger Flucht vor sich selbst quer um den Globus, einem Leben "auf Tour" und massivem Drogenmissbrauch versagte schlicht sein Körper im Alter von 48 Jahren.

De Tijd, Amsterdam, 2. August 1934

Verstorben - Gemeldet am 1. August 1934: Erich Borchardt, männlich, 48 Jahre


Er ging ins Ausland, wo er nun, kaum fünfzigjährig, den Tod gefunden hat, den ihm seine nähere Umgebung infolge seines hemmungslosen Rauschgift-Verbrauches schon lange vorhergesagt hat. Borchardt war bestimmt ein talentierter Musiker, aber seine menschlichen Schwächen überwogen die Vorzüge seiner Kunst.
Berliner Herold, 5. August 1934




Quellen

Mein Dank gilt vor allem Herrn Konrad Nowakowski aus Wien für seine Nachforschungen zu Eric Borchard in Wien und deren Bereitstellung! Alle mit (*1) gezeichneten Dokumente stellte er mir zur Verfügung. Die Wege Borchards 1922/23 in Wien sind detailliert nachzulesen: ANKLAENGE 2011/2012 Jazz Unlimited. Beiträge zur Jazz-Rezeption in Österreich: Konrad Nowakowski: Jazz in Wien: Die Anfänge bis zur Abreise von Arthur Briggs im Mai 1926

(*2) Sammlung Grammofan

(*3) Rainer Lotz in "Fox auf 78", Tritonisches Halali eines Jazzpioniers - ebenso die Besetzungsangaben zu der 1932er Band

Weitere Quelle: CD-Booklet, Der Jazz in Deutschland Vol. 1, Horst Bergmeier & Rainer Lotz, ISBN: 978-3-89916-379-7

Sowie eigene Forschungen. Vielen Dank auch an die Mitwirkenden des Portals die mir mit Rat und Tat zur Hilfe standen!
Autor & Recherche: Formiggini




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