Theaterkritik: Alfred Kerr vs. Herbert Jhering
Musikmeister, So Jul 26 2015, 14:38

In den 1920er Jahren bis frühe 1930er Jahre hing der Erfolg oder Misserfolg einer neuen Theaterpremiere von diesen beiden Theaterkritikern ab.
Ihre Kritik in den Zeitungen konnte Künstlerkarrieren beginnen bzw. beenden lassen.
Viele der von Schellackplatten bekannten Künstler, die in den Theater Berlins spielten, waren so indirekt abhängig vom Urteil dieser beiden Herren.
Durch deutschlandweite Kontakte konnten viele Talente durch diese Herren an Berliner Theater vermittelt werden. Es kam jedoch zur Katastrophe, wenn ein Theaterdirektor mal die beiden Herrschaften nicht weit genug auseinander plaziert hatte.

Der folgende 13 Jahre alte Artikel in der NZZ (Neue Zürcher Zeitung) zeigt die damalige Situation in der Theaterstadt Berlin:

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Die Theaterkritiker Alfred Kerr und Herbert Jhering


Ein Jahrhundertkampf

Die Theaterkritiker Alfred Kerr und Herbert Jhering waren zwei Schläger auf dem gleichen Kampfplatz. Der Platz hiess Berlin. Er war tauglich geworden für scharfe verbale Aggressionen, die über das Persönliche hinaus das Jahrhundert prägten.
Berlin wuchs zwischen 1872 und 1890 zur Hauptstadt des Theaters in Deutschland. Nirgendwo sonst gab es so viele Inszenierungen der Klassiker, so viele Triumphe der Meiningischen Schauspieltruppe. Nirgendwo so viel Unterhaltungstheater. In keiner anderen Stadt wurden seit Einführung der Gewerbefreiheit so viele Theater gegründet wie in der neuen Reichshauptstadt. Als die neuen Stücke von Ibsen, dann Hauptmann und Schnitzler auf den Bühnen Berlins erschienen, wuchs die Bedeutung Berlins als Theaterstadt noch einmal. Die neue Zeit begann mit dem Naturalismus. Damit änderten sich auch die Wertsetzungen und Massstäbe. Was war jetzt Wahrheit? Wo blieb die Schönheit? Was sollte künftig gelten?

Damals begannen die Fehden in der Theaterkritik. Junge Kritiker wie Otto Brahm, Paul Schlenther, Ludwig Hart stellten sich gegen die Konservativen, gegen Karl Frenzel oder Isidor Landau. Der alte Fontane schlug sich noch auf die Seite der Jungen. Das war die Instrumentierung des Schauplatzes, auf dem die neuen und künftigen Kämpfe stattfanden. In keiner anderen Stadt gab es so viel Zeitungen wie in Berlin. Hier schrieben ein gutes Dutzend Kritiker Rezensionen. Sie sollten nicht nur über Theater berichten, sondern ihr Blatt und sich selbst zur Geltung bringen. In die sachlichen Auseinandersetzungen um Wert und Unwert des neuen Dramas mischten sich also die ersten Rollenkämpfe: Wessen Meinung wurde massgebend?

DAVID UND GOLIATH

In diese Auseinandersetzungen geriet der junge Alfred Kerr. Er war Student in Berlin. Als er im «Magazin für Literatur», dann in der «Nation» Kritiken zu schreiben begann, kämpfte er bald für das neue, realistische Theater Hauptmanns, Schnitzlers, Wedekinds und gegen Sudermann und die Modeautoren jener Tage: gegen Skowronnek, den Kaiserliebling Josef Lauff u. a. In den ersten Jahren schärfte er Blick und Sprache. Den langen, gebildeten Rezensionen setzte er seine Knappheit, dem Schwafeln seine Konzentration, dem Philistertum seine intellektuelle Modernität entgegen. Kerr war ein Eristiker von Natur. Ein Schreiber, der Streit suchte und fand. Streit war eine der besten Methoden, um Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Die erste Schlacht, die er schlug, war die eines David gegen einen Goliath. Kerr rüstete sich auch mit Davids Waffen: mit Schleuder und Harfe.

Der Goliath in Berlin war Maximilian Harden, ein politischer Publizist, Gründer und Leiter der Zeitschrift «Die Zukunft». Harden war meinungsführend im politischen Streit und war ein Freund des Theaters. Er hatte die «Freie Bühne» mitbegründet, die die Stücke der Neuen bekannt machte. Aber Harden trennte sich bald von ihr, weil er gegen die ausschliessliche Förderung des Naturalismus war. Und schrieb dagegen. Er fühlte sich auch als Theaterkritiker. Was er Theaterkritik nannte, wucherte oft zu langen essayartigen Betrachtungen. Kerr nahm Ärgernis an Arroganz und Länge der Harden'schen Rezensionen, an ihren geschachtelten Sätzen, an Hardens publizistischer Rolle, und er nutzte auch Hardens Übertritt zum Christentum zum Angriff auf ihn selbst. Kerr sprach bald von Harden als «Herrn Maximilian, der früher Isidor hiess»; gern nannte er ihn «Schminkeles».

Der Konflikt entzündete sich an den Hauptmann-Rezensionen. Harden machte Hauptmann, für den der junge Kerr bedingungslos eintrat, dem Kaiser als Sozialdemokraten verdächtig. Die Uraufführung von Hauptmanns «Florian Geyer» nannte er den «trostlosesten Abend, den er je in einem Schauspielhause erlebt habe», «Hanneles Himmelfahrt»: «spottschlecht und widerwärtig»; Kerr schlug sich für «Florian Geyer» und rühmte die «unendlich ergreifende Kindertragödie». Er nannte Harden bald einen «verkrachten Apostel», sprach von der «geistigen Schlichtheit des Bismarckentdeckers». Als Harden im Dreyfus-Prozess gegen den Angeklagten schrieb, sagte Kerr: «Er bleibt über das Grab hinaus ein Brandmal des Literatentums.»

«DIE SCHAUBÜHNE»

1909 debütierte in der von Siegfried Jacobsohn gegründeten «Schaubühne» (später «Weltbühne») Herbert Jhering. Er war etwa zwanzig Jahre jünger als der längst arrivierte Kerr. Ein Hannoveraner. Ein Methodiker, ein Entwicklungsdenker. Ohne Witz und Eleganz, aber doch auch mit einer neuen, gedrängten Sprache. Kerr liebte Leichtigkeit, Jhering sprach in Basaltblöcken. Kerr war spielerisch, Jhering kämpferisch, Kerr ironisch, Jhering programmatisch, Kerr provozierend, Jhering deklarierend, Kerr extrovertiert, Jhering introvertiert. Es gab keine grösseren Gegensätze. Nie hat Kerr härteren Widerspruch erfahren als von dem jungen Herbert Jhering.

Ihr Konflikt flackerte schon im Jahre 1912. Sagte Kerr zur Aufführung von Strindbergs «Kameraden» damals, es werde in Berlin gut Komödie gespielt, sagte Jhering: «Ein Skandal ist die Regie dieses Theaters.» Dann ging Jhering für Jahre nach Wien. Als er im Herbst 1918 zurückkam nach Berlin, war - trotz Jacobsohns Aufstieg - Kerrs Stellung noch immer unangefochten. Kerr hatte die Öffentlichkeit fast ganz für sich. Seine gestochenen Kritiken am nächsten Abend waren journalistische Ereignisse. Mit Jherings Rückkehr erfuhr Kerr aber an sich, was er den Statthaltern der Kritik am Ende des Jahrhunderts entgegengehalten hatte: Sie seien Kritiker alten Typs. Brecht sprach später in Bezug auf Kerr vom überholten Typ des kulinarischen Kritikers. Jhering schrieb für die Jungen und wurde ihr Idol. Er sprach nicht mehr im Stil des funkelnden, geistvollen, seine Freiheit suchenden Feuilletons, sondern im kurzen, hämmernden Stil des Programmierers. Wegweisung war sein Antrieb. Anfangs war er original, ein Ausbrecher aus seiner Bürgerlichkeit. Brecht wurde später sein Inspirator; Jhering fast dessen Sprachrohr.

An Brecht wurde der Rivalitätskampf beider zum Konflikt. Kerr musste sich behaupten, Jhering sich durchsetzen. Kerr mass Brecht mit den Massstäben des Dramas, das den Konflikt zwischen Menschen behandelt. Er verlangte nach Menschen, nach Lebenswahrheit, nach seelischer Berührung, Jhering nach neuen Formen, neuen Inhalten, nach Entwicklung, nach Zukunftsgespür. Kerr war nicht gegen Brecht. Er spürte von Anfang an Talent, aber er wollte ihn ins Menschendrama treiben. So schrieb er zu «Baal»: «Ein Chaos mit Möglichkeiten.» Deutlicher zu «Trommeln in der Nacht»: «Kein blosses Chaos, nicht Gelalltes, ein Hin zu dem, was man Drama nennt.» Noch blieb er für ihn ein «begabter Ragoutkoch». Als Brecht sich mit «Im Dickicht der Städte» und «Mann ist Mann» weiter vom Menschentheater in ein Theater des Demonstrierens, des Vorführens von Beispielen, Theorien bewegte, sprach er - als er «Die Mutter» sah - von einem «primitiven Autor». Er stritt mit Brecht weniger polemisch als mit seinem Vorkämpfer Jhering. Brecht war ihm noch immer nur ein Hoffnungstalent. Für Jhering war er die feste Grösse der Zukunft. Er wurde Kerrs Gegner. «Herbert Spärlich» wurde Kerrs Kosename für seinen Kollegen.

Es ging aber nicht nur um Brecht. Jhering gab in seinen Rezensionen vor, er sei der Sprecher der Jungen, die Kerr nicht hochkommen lassen wolle. Jhering war nicht nur für Brecht, er focht für Barlach, für Arnolt Bronnen, dessen «Ostpolzug» Kerr «dünnes, flaches Zeug» nannte, Jhering aber «ein Theaterereignis». Im Rückblick tritt aus den Polemiken die Komik der Kämpfer hervor. Auch Kerr rühmte den Theaterabend; aber nicht wegen Bronnen, sondern wegen Kortner: «Hier steht ein Kerl voller Ballungen. Ein Sieger.» Jherings Position, das neue Drama zu vertreten, war auch arrogant. Kerr focht für Toller, für Musil. Er war nicht so gestrig, wie Jhering dartat. Kerr spürte, dass man in der sich politisch polarisierenden Gesellschaft ein aktuelles Theater brauchte, schrieb sogar früh: «Wir brauchen Tendenzstücke heut.»

Die beiden waren näher beieinander, als sie öffentlich wahrhaben wollten. Sie stimmten in vielem überein. Bei der Fleisser, bei Zuckmayer, sogar bei Hauptmann. Und setzten sich ein für Piscators Theater. Liest man heute Kerrs Rezension von Brecht/Weills «Dreigroschenoper», zweifelt man an Jherings Aberglauben, Kerr sei ein Feind Brechts gewesen. Kerr schrieb: «Man hat, ohne viel zu rechten, einen prachtvollen Abend (. . .), eine Darstellung, dass der Provinzler sich alle zehn Finger leckt. Berlin ist wirklich bühnenstark.»

METHODENSTREIT

Gleichwohl: Der Kampf der Kritiker füllte das Jahrzehnt, er begann 1922 und endete um 1931. Kerr stichelte, Jhering antwortete mit Breitseiten in ganzen Artikeln. Dezember 1924; Überschrift: «Klärung»: «Herr Kerr tötet Dramatiker, um einen Kritiker, um mich zu treffen . . . es ist Zeit, dass er auseinanderhält, wann er Dramatiker und wann er mich meint.» 1928 gab Jhering noch eine Salve in seiner Schrift über die «Vereinsamte Theaterkritik». Es ging (im Verein mit Brecht) gegen die «artistisch-feuilletonistische Kritik», wie Kerr sie praktizierte. Jhering forderte: «Nur die Begabung ist zu betonen, nur die fruchtbare Idee darf Raum einnehmen (. . .). Aus dem Kampfrichter soll der Kämpfer werden.» Jhering beschrieb damit sich selbst. Seine Sätze nahmen sich aus, als sei die Feindschaft unüberwindlich. Als wäre Kerr der Kampf fremd gewesen: für Hauptmann, für Schnitzler, für Wedekind. Und als hätte Kerr seine Art der Kritik nicht aus und gegen die Methodik seiner Zeit und aus den veränderten Lesebedürfnissen entwickelt. Kerr bemühte sich um «Kernbelichtungen», um Wesenserfassung. Um Wertbestimmung. Es waren andere Vokabeln für das, was Jhering auch versuchte. Aber die beiden blieben Rivalen. Jhering galt in den zwanziger Jahren mehr als Kerr im Kreis der Theatersystematiker, Kerr galt mehr in der Öffentlichkeit.

Seit diesem Streit zwischen Alfred Kerr und Herbert Jhering, der inzwischen Legende ist, gibt es zwei Schulen in der Theaterkritik: die feuilletonistische, die sich von Kerrs Stil und Art ableitet (ohne beides zu erreichen) und sich brillierend nach aussen wendet - und die, die mit dem Theater argumentiert, in das Theater hineinschreibt, die dramaturgische Kritik, wie Jhering sie entwickelte. In der Rivalität um die grössere Geltung verbarg sich also ein Streit um die Methoden der Theaterkritik, wie er seitdem nie mehr geführt worden ist. Das war das Fruchtbare an ihm, obwohl er als etwas Furchtbares erschien: nämlich als die Selbstzerfleischung der Kritik.

Re: Theaterkritik: Alfred Kerr vs. Herbert Jhering
Starkton, So Jul 26 2015, 17:23

Danke für den Beitrag. Eine willkommene Sonntagslektüre. Ich bedauere wirklich, dass es in Deutschland keine Kritiker vom Format Maximilian Hardenberg, Karl Kraus und Alfred Kerr mehr gibt.

Man kann Kerrs Stimme auf zwei Plattenseiten mit eigenen Texten hören, die er am 11. März 1929 für die Grammophongesellschaft aufgenommen hat:
a) Als Josef Kainz starb; b) Theater, Theater (aus dem Gedichtband "Die Harfe") ((mx. BL5153 Take 1, Grammophon 8-41073, Electrola EG 1380): Link - Hier klicken
a) Eltern bleiben (aus "Friedhofsinschrift"); b) Eichendorff; c) Der Kopfstein (mx. BL5154 Take 1, Grammophon 8-41074, Electrola EG 1380): Link - Hier klicken

Hier ist noch ein Ausschnitt aus dem "Literarischen Quartett" über Alfred Kerr: Link - Hier klicken