Riesenprofite, Korruption und Plattenpiraterie im Russischen Kaiserreich
Starkton, Do Nov 03 2016, 19:09
Riesenprofite, Korruption und Plattenpiraterie im Russischen Kaiserreich
Norbert Mortimer Rodkinson und David Aleksandrovich Finkelstein
Der U.S.-Amerikaner Norbert Mortimer Rodkinson, Sohn eines russischstämmigen Rabbi, war bereits in jungen Jahren ein erfahrener Geschäftsmann mit internationalen Kontakten. Russland, das damals auch Polen „verwaltete“, war ein extrem schwieriger Markt mit beinharten Geschäftspraktiken. Dem mit amerikanischen wie russischen Geschäftsmethoden gleichermaßen vertrauten Rodkinson gelang es sich gegenüber den dortigen Händlern Respekt zu verschaffen.
Dies machte ihn zum idealen Geschäftspartner für die Londoner Grammophongesellschaft, welche den etwa 26jährigen Rodkinson im Jahr 1900 zum allein verantwortlichen Leiter ihrer russischen Niederlassung machte.
N. M. Rodkinson
(Bildquelle: Phonographische Zeitschrift, Berlin, 7. Jahrgang, No. 6, 8. Februar 1906, p. 105)
Zunächst lief alles bestens, zumal Rodkinson und seine rechte Hand, der Händler Ippolit Pavlovich Raphoff, die glänzende Idee der Tonaufnahme berühmter Stars wie Chaliapin bei gleichzeitiger Einführung eines rot-goldenen Luxusetiketts hatten. Seine zumeist sehr wohlhabenden Kunden zahlten gerne den doppelten Preis für diese optisch veredelten Schallplatten. In Russland prallten bittere Armut großer Bevölkerungsschichten und extremer Reichtum wie damals sonst nirgendwo auf der Welt zusammen.
Auf Rodkinsons Empfehlung kaufte die Grammophongesellschaft im Jahr 1903 die Einzelhandelsgeschäfte von Louis Lebell und Ippolit Pavlovich Raphoff für umgerechnet fast 500.000 Goldmark, ohne zunächst zu ahnen, dass Rodkinson an diesem Handel finanziell beteiligt war und einen großen Profit einstrich. Er hatte auch private Geschäftsverbindungen zu einem Herrn Rosenauer in St. Petersburg, der sämtliche russische Plattenkataloge und sonstige Werbematerialien druckte.
Die Beschäftigten der Grammophongesellschaft in St. Petersburg mit Norbert Rodkinson in der Mitte
Bald sickerten Berichte über Rodkinsons zunehmende Korruption bis zur Londoner Zentrale durch. Die russische Niederlassung war trotz Veruntreuung, stärker werdender Konkurrenz und falschen Managemententscheidungen immer noch hochprofitabel und trug über die Hälfte des Konzerngewinns bei. Anstatt den Laden gründlich aufzuräumen und eine neue Geschäftsleitung einzusetzen ließ man deshalb alles beim Alten.
Rodkinson wurde auch nicht etwa gefeuert, sondern ca. November 1904 zum Leiter der Deutschen Grammophon A.G. und einige Monate später sogar zum Vorstandsmitglied ernannt. Die russische, österreichische und skandinavische Filiale sowie diejenige der Balkanländer verwaltete er quasi „nebenbei“ und hatte noch die Muße, die Grammophongroßhandlung H. Weiß & Co. in Berlin samt Zweigstelle in Dresden aufzukaufen.
Im Juli 1904 machte der Sprechmaschinenhändler David Aleksandrovich Finkelstein erstmals von sich reden, als er die Firma Parlophon David Finkelstein, Ritterstraße 51, in Berlin gründete und „Parlophon“ als Warenzeichen eintragen ließ. Unter genau diesem Namen hatte die Firma Lindström kurz zuvor begonnen Grammophone zu verkaufen. Lindström hatte es jedoch verpasst sich diese Bezeichnung eintragen zu lassen, was sie wenige Tage nach Finkelsteins Coup nachholen musste.
David Finkelstein übertrug die Firma bereits im März 1905 an einen Verwandten, den Kaufmann Abraham Finkelstein und verlegte sich auf das offenbar wesentlich lukrativere Raubkopieren von Schallplatten, insbesondere den hochpreisigen Aufnahmen der Grammophongesellschaft für den Export nach Russland. Der russische Markt kannte keinen Kopierschutz, denn der Zar hatte den völkerrechtlichen Vertrag von 1886, die Berner Übereinkunft zum Schutze von Werken der Literatur und Kunst, nicht unterzeichnet.
Die Piraterie wurde bald so ärgerlich, dass die Grammophongesellschaft - auf dringende Empfehlung von Rodkinson -
Finkelstein mit 100.000 Goldmark ausbezahlte um ihn loszuwerden. Ende 1908 trat Rodkinson plötzlich von seinem Vorstandsposten zurück und übernahm die Sächsische Holzwarenfabrik Max Boehme & Co. A. G. für den Bau von Grammophongehäusen.
Finkelstein hatte natürlich nichts Besseres zu tun als das Geld umgehend in eine modernere Fabrik in Russland zu investieren und ab 1909 in die Massenfabrikation von Platten einzusteigen. Was die Angelegenheit für die Grammophongesellschaft noch brisanter machte, Rodkinson war an dieser Fabrik finanziell beteiligt! Viele russische Zwischen- und Einzelhändler hatten bei Rodkinson Hypotheken aufgenommen und sich durch Wechsel Geld verschafft. Diese hatte er nun in der Hand und forderte sie auf „Orpheon Records,“ Finkelsteins Produkt, über ihre Läden zu vertreiben.
Raubpressung einer Victor Talking Machine Co. Aufnahme von 1906
Von knapp über 1000 Aufnahmen im „Orpheon Record“ Katalog von 1909 waren fast 90% von der Grammophongesellschaft gestohlen. Diese schaffte es aber lange nicht Finkelstein zu stoppen. Als das russische Parlament sich im Jahr 1910 mit einer Gesetzesänderung in Sachen Kopierschutz beschäftigte, begann „Orpheon Record“ auch eigene Tonaufnahmen zu machen und sogar eine Allianz mit der Columbia Phonograph Company, der alteingesessenen amerikanischen Sprechmaschinenfabrik, zu schmieden. Alles nur zum Schein, denn parallel dazu nahm man gezielt Einfluss auf die Gesetzesvorlage im Parlament und produzierte ungestört weiterhin Raubpressungen.
Erst im Jahr 1911 wurde es schließlich eng für Finkelstein. Die Grammophongesellschaft konnte Chaliapin überzeugen, dass auch sein eigener Gewinn durch die Piraterie empfindlich geschmälert wurde. Deshalb machte der berühmte Sänger seinen Einfluss geltend. Binnen kurzem stürmte die russische Geheimpolizei Finkelsteins Produktionsanlage und schloss die Fabrik.
Zu Rodkinsons Leben nach 1911 habe ich eine interessante Quelle gefunden, siehe weiter unten.
Re:
Riesenprofite, Korruption und Plattenpiraterie im Russischen Kaiserreich
Hedensö, Do Nov 03 2016, 19:38
Sehr interessanter Bericht. Vielen Dank,
Ließt sich wie ein Wirtschaftskrimi...
Re:
Riesenprofite, Korruption und Plattenpiraterie im Russischen Kaiserreich
berauscht, Do Nov 03 2016, 19:55
Vielen Dank! Sehr interessant!
Vielleicht kannst Du noch das Jahr ergänzen, wann die Geschäftspartnerschaft begann und wann Rodkinson Leiter der russischen Niederlassung wurde.
Re:
Riesenprofite, Korruption und Plattenpiraterie im Russischen Kaiserreich
alang, Do Nov 03 2016, 20:31
Vielen Dank Stephan fuer diese interessante Recherche. Silche Details aus der russischen Geschichte hoert man leider nur sehr selten.
Viele Gruesse
Andreas
Re:
Riesenprofite, Korruption und Plattenpiraterie im Russischen Kaiserreich
Starkton, Do Nov 03 2016, 22:14
berauscht schrieb ...
Vielleicht kannst Du noch das Jahr ergänzen, wann die Geschäftspartnerschaft begann und wann Rodkinson Leiter der russischen Niederlassung wurde.
Im Jahr 1900 kam er zur Grammophongesellschaft. Ich habe es oben nachgetragen. Danke für den Hinweis.
Ich freue mich sehr über Eure positiven Kommentare.
Re:
Riesenprofite, Korruption und Plattenpiraterie im Russischen Kaiserreich
Starkton, Fr Nov 04 2016, 17:39
Im Buch von Andrew Cook, Ace of Spies: The True Story of Sidney Reilly, fand sich auf Seite 137-139 einiges über Norbert Mortimer Rodkinson. Quelle:
Link - Hier klickenSogar seine Herkunft ist nebulös. War er wirklich U.S. Amerikaner?
Re:
Riesenprofite, Korruption und Plattenpiraterie im Russischen Kaiserreich
_-_-_, Fr Nov 04 2016, 17:40
Ja, wirklich sehr interessant. Besten Dank
Hier noch als Text:
Although the investigators believed him to be an Englishman, he was certainly not born in Britain. In fact, he later claimed to be an American. A memorandum from the Office of the Counselor at the US State Department, shortly aftcr the war had ended, casts Rodkinson in an cntircly new light [49]
26 November 1918
Copy to: ON1, MID,Justice Department
Subject: Norbert Mortimer Rodkinson, Care Renskorff, Lyon 8c Co.
From the Information on file in this office it appears that he is a native American Citizen, born at Baton Rouge, of Russian-Jewish and French-Creole parentage. He has no birth certificate but says it was destroyed in a fire. His wife’s maiden name was Polens and she was English of German parentage and doubtful morals [50]. He is a man of pleasing personality and apparently some ability - a linguist, which intimate knowledge of Russian life and affairs. His business reputation is doubtful. When, in January 1918, he obtained a passport to visit the United States, it was marked ‘No Return' by the British authorities, but a protest from Rodkinson caused this decision to be reversed - as he was, at that time, apparently connected with the Ministry of Information. On reaching America he applied for a position under the State Department, giving five references. Of these, only one vouches for him without reserve. Another can give no definite information about him.Two of the remaining three believe him to have been born in Germany, neither believe him to be on the square, and one says he would hesitate in employing him in a government position.
As for bis private life - he has been married twice and was once stabbed by a ''fille-de-joie" [51] while visiting in Berlin. He asserts he has been employed by the British Intelligence Department. Of this there is no record.
More revealing is a Bureau of Investigation memorandum, written some three months earlier, based upon Information supplied by Col. Proskey, who sparked off the Reilly investigation in April 1917. Agent R.W. Finch of the Bureau s New York City office States that:
Col. Proskey, of Flint & Co., 120 Broadway, NY, very confidential informant of this office, advises chat he has been informed that a man by the name of Rodkinson, formerly employed by Flint &' Co.,desires to go on the proposed Russian Commission to Russia. He desires a letter of recommendation from Flint & Co. 1t is said that Rodkinson recently saw Senator J. Hamilton Lewis, who has promised to secure Rodkinson an audience with President Wilson [52].
Proskey goes on to relate that Rodkinson had formerly represented Flint &: Co. in Petrograd, during which period his house had been raided twice by the police. He also refers to Rodkinson’s ability to speak German and Russian and States that after his ‘troubles in Russia’ he returned to the US and joined the firm of Renskorff, Lyon & Co. What lay behind his troubles in Russia is not known for sure. There was certainly a great deal of substance to the concerns outlined by the US State Department and Bureau of Investigation. For example, in the I 4th US Census held in 1920, Rodkinson appears at 1 59 West 78th Street, New York City, living with Corinne, his English-born wife, and their English maid, Maud Peddar. He declared in his Census return that he was born in Louisiana. However, there is no record in Louisiana of anyone of that name or similar being born in or around I 874, his declared year of birth [53].
He first appears in US Immigration records on arrival in New York on 10 June 1903 aboard the Kaiser Wilhelm der Grosse, which sailed from Bremen, Germany. Over the next two decades he, his first wife Susanne and second wife Corinne, crop up repeatedly, criss-crossing the Atlantic. Prior to the First World War, all journeys to New York began in Germany. Although he always described himself as a US citizen, as we have seen, he was never able to prove that he was born in the USA. While his general [...]