Das große Sterben der 78 Upm
berauscht, Sat Dec 03 2022, 20:11pm

31. Januar 1955:
DAS GROSSE STERBEN DER 78 UPM


Die Langspielplatte fordert ihre Opfer. Die Verlagerung des Publikumsinteresses von der Schallplatte mit 78 Umdrehungen pro Minute zur Platte mit 33 1/3 und 45 UPM löst größere Säuberungsaktionen in den Katalogen aus. Immer näher rückt der Zeitpunkt des großen Schlachtens der 78 UPM. Der 31. Januar 1955 wird wohl im Kalender des Schallplattenfreundes mit einem Trauerrand versehen werden müssen. An diesem Tag werden ein paar hundert bedeutsame Platten des englischen E.M.I.-Konzerns (dem His Master's Voice-Electrola und Columbia angehören) aus den Katalogen gestrichen.

Es gibt Liebhaber der alten Platten — vor allem Freunde der Sängerplatten —, die diesem Autodafé mit Mißbehagen entgegensehen und den Firmen stille Vorwürfe machen. Aber man sollte doch beachten, daß über die Streichung aus dem Katalog eigentlich das Publikum entscheidet, das sich eindeutig von 78 UpM abwendet. Die kommerzielle Politik der Erzeugerfirma zieht aus dieser Tatsache nun die notwendige Konsequenz. Wir verstehen und verzeihen. Aber das hindert uns nicht, zu bedauern. Da ist, zum Beispiel, die traurige Geschichte des „Rosenkavalier", dessen stilistische Deutung wir bald nur mehr aus „dritter Hand" kennenlernen werden. Die Oper wurde 1911 uraufgeführt. Später wurden in der Uraufführungs-Besetzung (mit Karl Perron als Ochs von Lerchenau) Aufnahmen gemacht. Als sich um 1930 das elektrische Aufnahmeverfahren durchsetzte, mußten diese alten Platten verschwinden.

HISTORISCHER „ROSENKAVALIER"
1933 brachte His Master's Voice die wichtigsten Teile der Oper auf insgesamt 13 Platten (78 UpM) heraus. Die Besetzung war von historischer Bedeutung: Lotte Lehmann als Marschallin, Richard Mayr als Baron Ochs, Maria Olszewska als Octavian und Elisabeth Schumann als Sophie! Noch ist dieses großartige Dokument erhältlich, aber wer es noch nicht besitzt, wird es rechtzeitig bestellen müssen ... Sollte nicht jedes Opernhaus, das um eine Aufführung im ursprünglich-echten Stil bemüht ist, diese 13 Platten ins Archiv stellen? Bei großen Aufnahmen, die historische Bedeutung haben, besteht wohl die Aussicht, daß E. M. I., die im Besitze der Matrizen sind, in einem späteren Zeitpunkt diese Aufnahmen auf LP herausbringen. Weniger Hoffnung auf Rettung vor dem endgültigen Untergang gibt es bei den vielen kleinen Perlen der Gesangs- und Opernkunst, die auf 78 UpM festgehalten wurden.

WAS BLEIBT VON RICHARD TAUBER?
Ältere Kritiker lieben es, immer von neuem auf den Verfall der Gesangskunst hinzuweisen. Man wird dabei den Verdacht nicht los, daß es sich nur um das übliche Gerede von der „guten alten Zeit" handelt, mit dem die ältere Generation der jüngeren zu imponieren sucht. Leider haben die Pessimisten jedoch genügend Beweismaterial — in Gestalt von Schallplatten. Und sie weisen mit einer gewissen Berechtigung darauf hin, daß der große Massenmord an den 78ern der nachrückenden Generation die Vergleichsmöglichkeit nehmen könnte. In der Tat macht die Säuberung von E. M. I. auch vor den erlauchtesten Namen nicht halt. Fritz Kreislers Beethoven-Sonaten, Edwin Fischers „Wohltemperiertes Klavier" (zum Teil), Arthur Schnabels Beethoven-Sonaten, Händel- und Scarlatti-Aufnahmen der Landowska und Bach-Suiten von Casals müssen daran glauben! Ebenso radikal wird mit den Sängern verfahren: eine ganze Reihe von Karl-Erb-Platten steht auf der Streichungsliste. Kirsten Flagstad und Marian Anderson sangen für 78er-Aufnahmen Bachs „Komm, süßer Tod" und die E.-M.-I.-Inquisition spricht nun das Todesurteil aus, das im nächsten Jahr vollstreckt wird. Sehr hoch ist die Sterblichkeitsquote bei den Tenor-Platten: Gigli kommt noch relativ glimpflich davon, Richard Tauber hingegen wird stark reduziert: es bleiben insgesamt dreizehn Platten! Zu den von der englischen Parlophone „begnadigten" Tauber-Platten gehört glücklicherweise das Finale zum zweiten Akt der „Fledermaus" (mit Lotte Lehmann als Rosalinde). Alle Caruso-Aufnahmen der Archivserie von His Master's Voice verschwinden mit dieser ganzen Serie in der Versenkung. Aber auch sonst wird mit Caruso wenig schonend verfahren. Die 78er-Platte „Ombra mai fu" (das berühmte „Largo" aus Händels „Xerces") wird gestrichen. In ähnlicher Weise wird das Schaljapin-Repertoire behandelt. Bedauernswert ist wohl auch, daß Maria Cebotaris große Arie aus „Ariadne auf Naxos" sich nicht behaupten konnte. Die Künstlerin starb leider viel zu früh, um uns auf Lang-spielplatten bleibende Dokumente ihrer großen Kunst zu schenken. Auch das Todesurteil, das über fast alle 78er-Platten von Ljuba Welitsch ausgesprochen wurde, berührt uns schmerzlich, denn es ist fraglich, ob wir die Briefszene aus „Eugen Onegin" von dieser Künstlerin nochmals in dieser Vollendung hören werden. Die LP-Fassung der gleichen Aufnahme ist akustisch keineswegs so befriedigend wie die 78er-Platte.

KNAPP VOR TORSCHLUSS
Diese wenigen Hinweise auf einige der auffallendsten Streichungen mögen genügen, um den Sammler auf die kritische Situation aufmerksam zu machen. Es gilt nun, im Budget die richtigen Dispositionen zu treffen, damit knapp vor Torschluß noch jene Platten für die eigene Kollektion gerettet werden können, die später unwiderruflich vorn offiziellen Markt verschwinden und nur noch im Raritätenladen zu haben sein werden.
Phono, Winter 54/55

Re: Das große Sterben der 78 Upm
shellackotto, Sat Dec 03 2022, 20:41pm

Das ist ein interessanter zeitgenössicher Artkel. In der Tat geht bei jedem Formatwechsel etwas verloren. Doch einige der Interpreten, die der Artikel aufzählt, sind auch auf LP ganz gut gefahren.

Von Richard Tauber, z.B., gibt es auf Discogs 290 LP-Einträge weltweit:
https://www.discogs.com/search/?type=all&artist=Richard+Tauber&format=LP&layout=med

Für Enrico Caruso gibt es sogar 488 LP-Einträge:
https://www.discogs.com/search/?type=all&artist=Enrico+Caruso&format=LP

Kirsten Flagstad kann beeindruckende 401 LP-Einträge bieten
https://www.discogs.com/search/?type=all&artist=Kirsten+Flagstad&format=LP

Marian Anderson hat immerhin noch 155 LPs:
https://www.discogs.com/search/?type=all&artist=Marian+Anderson&format=LP

Das Werk von Ljuba Welitsch ist auf mindestens 61 LPs verewigt:
https://www.discogs.com/search/?type=all&artist=Ljuba+Welitsch&format=LP

Und selbst die frühverstorbene Maria Cebotari hat es zu mindestens 58 LPs gebracht:
https://www.discogs.com/search/?type=all&artist=Maria+Cebotari&format=LP

Keine dieser Listen kann vollständig sein; es gibt sicher mehr LPs von jedem/r dieser Künstler/innen, als bisher bei Discogs eingetragen worden sind. Es kann natürlich durchaus sein, dass es einzelne Aufnahmen gibt, die nie auf LP herausgegeben wurden. Aber ganz so dramatisch, wie der Autor es in seinem Unkenruf darstellt, scheint es dann doch nicht gekommen zu sein.

Re: Das große Sterben der 78 Upm
berauscht, Sun Dec 04 2022, 00:25am

Die Streichungslisten kamen gegen Ende des Jahres 1954. Die ersten Wiederveröffentlichungen erschienen erst im Frühjahr 1955. Vermutlich war es Absicht der Industrie, wie oben im Artikel, Panik unter Musikliebhaben zu schüren, um den Händlern die Möglichkeit zu geben kurz vor Toresschluss ihre Läger zu räumen. Hätte man Zeitgleich die Wiederveröffentlichung auf LP angekündigt, wären wohl viel Händler auf den 78er Platten sitzen geblieben.

Re: Das große Sterben der 78 Upm
snookerbee, Sun Dec 04 2022, 16:07pm

Interessant ist auch der Hinweis in dem Artikel auf eine nicht zufriedenstellende Qualität der Umschnitte der 78er-Aufnahmen für LP. Immerhin ein Problem, welches sich bis in die Streaming-Ära hinein fortsetzt.