Das Meister-Sextett
Kontinuität oder Zäsur? Diese Frage stellte sich den nationalsozialistischen Machthabern nach 1933, als deren Kulturpolitik sich zwischen diesen beiden Polen bewegte. Zweifellos brachten das Jahr 1933 und die so genannte Machtergreifung der Nationalsozialisten einschneidende Veränderungen auf allen kulturellen Gebieten, die aber gerade im Bereich der Musik nicht radikal und strikt mit einem zentralen Datum zu verbinden sind. Die Frage nach Kontinuitäten ist schon deshalb eine schwer zu beantwortende, weil sich der Umbruch der Kultur durch das NS-Regime nicht für eine kurze Zeitspanne dokumentieren lässt: Es gibt vielmehr eine Übergangsphase, einen Kompromiss zwischen Unterdrückung und Duldung. Selbst das von den Nationalsozialisten definierte rassische Ausschlusskriterium ist keines, das von Anfang an stringent befolgt worden wäre. Es ist, um mit Albrecht Riethmüller zu sprechen, eher der Minimalkonsens, auf dem die NS-Kulturpolitik aufbaute. Kontinuität oder Zäsur? Diese Frage stellte sich auch den in Deutschland verbliebenen Comedian Harmonists. Und sie war leicht zu beantworten, zumindest im Sinne einer Absichtserklärung: Der Neubeginn sollte die Fortsetzung der alten Erfolge garantieren, in musikalischer wie in finanzieller Hinsicht.
Wohl noch bevor die ehemaligen Kollegen der Ur-Comedian-Harmonists Deutschland verlassen hatten, wurde – wie schon 1927 – im Berliner Lokal-Anzeiger eine Annonce geschaltet: „Weltberühmtes deutsches Gesangsensemble sucht zwei Tenöre und einen Bariton, nicht über 30 Jahre.“
Während die Ansprüche im Vergleich zu dem Vorsingen acht Jahre zuvor eher gestiegen sein dürften, war das Niveau der Bewerber wohl kaum höher. Die Suche nach neuen Mitstreitern gestaltete sich schwierig, einzelne überstanden die Probezeit nicht und wurden wieder ausgetauscht. In Richard Sengeleitner als zweitem, Fred Kassen als drittem Tenor und Walther Blanke als Bariton schien man schließlich die geeignetsten Mitarbeiter gefunden zu haben, die nicht – wie bei der Originalformation – als gleichberechtigte Teilhaber, sondern lediglich als Angestellte der drei Gesellschafter Robert Biberti, Erwin Bootz und Ari Leschnikoff unter Vertrag genommen wurden. Den Pianisten Janos Kerekes engagierte man für mehrere Monate als Korrepetitor, der die neuen Sänger in die Partituren einarbeiten und mit ihnen üben sollte.
Ein weiteres Problem der Neugründung bestand in der Namensgebung, über die ein Jahre andauernder Streit mit der Reichsmusikkammer entbrannte, der für das Ensemble von existentieller Bedeutung war, so Robert Biberti:
„Ich sagte damals: Wenn sich heute Herr Furtwängler nun nennen muss August Schultze und gibt ein Konzert und darf auch nicht darauf hinweisen, dass es ja eigentlich Furtwängler ist, so geht in das Konzert kein Aas, weil August Schultze nicht interessiert, auch wenn das Konzert allererster, berühmtester Klasse ist. Die Leute wissen es nicht und gehen deswegen nicht hin.“
Das Meister-Sextett in Den Haag mit Verehrerinnen – v.r.n.l.: Richard Sengeleitner (2. Tenor), Walther Blanke (Bariton), Fred Kassen (3. Tenor), Ari Leschnikoff (1. Tenor), Robert Biberti (Bass) und Erwin Bootz (Piano)
Bei den Verhandlungen mit verschiedenen Vertretern der Reichsmusikkammer wurde absehbar, dass der alte Name nicht zu halten war – am 5. August 1935 wurde die Bezeichnung Comedian Harmonists untersagt –, Robert Biberti bemühte sich daher um eine pragmatische Lösung im Sinne der Gruppe: Er schlug den Namen „Meister-Sextett“ vor – wohl in Anlehnung an das frühere Meistersänger-Quartett seines Vaters – bat allerdings darum, einstweilen den Zusatz „früher Comedian Harmonists“ führen zu dürfen. Mit Bescheid vom 21. November 1935 wurde dieser Bitte entsprochen, die Verwendung aber von Seiten der Musikkammer genau verfolgt und reglementiert.
Die erhaltenen Programmfolgen erster Auftritte des Meister-Sextetts belegen eine weitere vorläufige und angestrebte Kontinuität, die des Repertoires. Die Mehrzahl der angegebenen Lieder sind bereits im Œuvre der Comedian Harmonists nachzuweisen und wurden schon von der Originalgruppe auf Schallplatte eingesungen. Festzustellen ist, dass nicht alle Lieder den rassischen Anforderungen des Regimes entsprachen: Eine ganze Reihe von Stücken ging auf jüdische Komponisten, Texter oder Arrangeure zurück, was das Ensemble möglicherweise durch die fehlenden Angaben zu den Autoren zu verschleiern suchte. Zum Neustart im Plattenstudio erarbeite man mit „Drüben in der Heimat“ und „Tausendmal war ich im Traum bei dir“ tatsächlich neue Stücke. Bereits am 26. Juli 1935 hatte das Ensemble mit der Electrola GmbH einen Vertrag zu den früheren Bedingungen abgeschlossen – lediglich die Zahl der jährlich garantierten Einspielungen wurde auf zwanzig nach unten korrigiert –, am 20. August folgte die erste Aufnahmesitzung. Dass die Lieder mehrfach wiederholt werden mussten und erst am 16. September endgültig eingespielt wurden, belegt die künstlerischen Schwierigkeiten, mit denen die Gruppe zu kämpfen hatte. Auch beim Rundfunk wurde das Meister-Sextett – „in Gnaden“, wie Robert Biberti später kommentierte – wieder zugelassen. Mitte Januar 1936 stand in „Die Entführung“ der erste Filmauftritt des neuen Ensembles an, dem im selben Jahr noch fünf weitere folgen sollten.
Programmheft zu einem Konzert in Zittau 1936
Bühne, Platte, Funk und Film – das Meister-Sextett hatte sich die zentralen Betätigungsfelder der Comedian Harmonists zurückerobert. Dies könnte vordergründig darüber hinwegtäuschen, dass sich die früheren Erfolge nicht (zumindest nicht in gewohntem Umfang) einstellten, und somit von Kontinuität auch im Rückblick der Sänger und des Pianisten nie die Rede sein konnte. Nicht nur, dass die Gruppe wegen ihres Gesangsstils weiterhin auf Vorbehalte stieß, die äußeren Zwänge waren um ein Vielfaches größer geworden: Anders als im staatspolitischen Rahmen der Weimarer Republik zur Gründungszeit der Comedian Harmonists stand man nun unter behördlicher Beobachtung, hatte Programme für Auslandsauftritte (die in begrenztem Maße wieder möglich waren und trotz der Abmachung mit den ehemaligen Kollegen stattfanden) vorab vorzulegen und sich für vermeintliche Fehltritte zu rechtfertigen, wie eine Reaktion der Reichsmusikkammer auf einen Auftritt der Emigrantengruppe (!) belegt:
„Nach dem Rundfunkplan für den 17. Oktober 1936 sind Sie in Kopenhagen unter der Bezeichnung ‚Die Comedian Harmonists singen’ angekündigt worden. Ich bitte hierzu um Stellungnahme.“
Zu dieser grundlegend veränderten politischen Situation kamen die künstlerischen Schwierigkeiten des Ensembles. Hat Biberti in späteren Interviews immer wieder dezidiert betont, mit ihm als Bass, Leschnikoff als erstem Tenor und Bootz als Pianisten seien die Ecksäulen der Comedian Harmonists in Deutschland geblieben, war dies für das musikalische Niveau auf lange Sicht keine hinreichende Garantie. Dass Bootz und Frommermann die Arrangements der Gruppe in durchaus großer Konkurrenz zueinander gefertigt hatten, dürfte zumindest im Falle Bootz’ zu einer gesteigerten Kreativität beigetragen haben, ein Arbeitsansporn, der nun hörbar fehlte. Daneben wurde das Repertoire der Gruppe durch die ideologischen Maßgaben des NS-Regimes, denen man zu genügen versuchte, stark begrenzt: Erfolge jüdischer Texter oder Komponisten wie „Veronika, der Lenz ist da“, „Ein Freund, ein guter Freund“ oder „Heute Nacht oder nie“ waren nicht mehr aufführbar. Nur „Mein kleiner grüner Kaktus“ war trotz der jüdischen Urheber Bert Reisfeld und Rolf Marbot noch 1937 im Repertoire des Meister-Sextetts, als Autor wurde offiziell ein Herr „Dorian“ angegeben. Die Programmauswahl war auch dadurch beschränkt, dass ausländische Liedtitel nicht mehr gefragt, für die wenigen Auslandsauftritte auch kaum mehr zweckmäßig erschienen. Zwar übernahm man durchaus eine ganze Reihe amerikanischer Hits wie „Cheek to cheek“, „Let’s face the music and dance“, „She wore a little jacket of blue“, „Ten thousand hoorays“, „The Piccolino“ oder „There’s a new world“, dann aber ausschließlich mit deutschen Texten. Von den rund 70 Titeln, die das Meister-Sextett auf Schellackplatten eingespielt hat, sind lediglich fünf fremdsprachig gesungen – bezeichnenderweise mit einer Ausnahme spanisch und italienisch: „Marecchiare“ (aufgenommen am 24. Mai 1937), „O sole mio“ (12. Oktober 1937), „Amapola“, „Donkey-Serenade“ (beide 23. November 1938) sowie „La Paloma“ (8.3.1939).
Darüber hinaus hatte man mit den Schwächen der neuen Mitglieder zu kämpfen, die sich entweder künstlerisch nicht so in die Gruppe einfügten, wie man sich das erhofft hatte, oder sich einer eigenen Solo-Karriere widmen wollten. Die diesbezüglichen Pläne Richard Sengeleitners, mit dessen gesanglicher Leistung man durchaus zufrieden war, führten dazu, dass man im Juni 1936 bei dem durch die Kardosch-Sänger vokalgruppenerfahrenen Rudi Schuricke anfragte. Dass dieser nach einhelliger Meinung versierte und technisch brillante Sänger nur aufgrund seiner Körpergröße nicht engagiert wurde, spricht nicht für die künstlerische Kompetenz der drei Gesellschafter. Der zweite Tenor war danach für die anstehenden Termine nicht mehr rechtzeitig neu zu besetzen. Zeno Costa – ebenfalls von den Kardosch-Sängern – wurde aushilfsweise verpflichtet, Richard Sengeleitner noch einmal für eine Filmaufnahme unter Vertrag genommen, weitere Namen von zwischenzeitlichen Ersatzleuten fallen mit Walther und Papenberg in den Aufzeichnungen Bibertis. Am 20. September konnte schließlich in Alfred Grunert ein langfristiger Ersatz auf dem Posten des zweiten Tenors gewonnen werden, obwohl dieser am 16. Juli 1936 für ein Jahr aus der Reichsmusikkammer ausgeschlossen worden war – er habe „mit einer nichtarischen Gesanglehrerin intime Beziehungen gehabt“, so der Vorwurf.
Das Meister-Sextett - Jeden Tag, jede Nacht - ORA 875-3 - Electrola E.G. 3502
Vermutlich saß bei der Aufnahme nicht Erwin Bootz, sondern Janos Kerekes am Klavier, der dafür zuständig war, die Neumitglieder anzulernen.
Einwänden der Reichsmusikkammer, die nach einem Konzert in der Berliner Philharmonie in einer polizeilichen Vernehmung gipfelten, begegnete man damit, dass die Ermittlungen gegen Grunert eingestellt worden waren und er weiterhin Mitglied der Reichstheaterkammer blieb. Am 20. Mai 1937 wurde der Sänger schließlich wieder in die Reichsmusikkammer aufgenommen, behördlicherseits scheint es keine Vorbehalte mehr gegen ihn gegeben zu haben. Die Suche nach einem neuen Bariton für den am 30. Juni 1936 ausgeschiedenen Walther Blanke gestaltete sich einfacher: Am 10. August unterzeichnete Herbert Imlau, ehemaliger Bariton der Humoresk Melodios und der Spree-Revellers, beim Meister-Sextett. Da sich die beiden neuen Mitglieder offenbar zur Zufriedenheit aller in das Ensemble einfügten, war der Plan hinfällig, die Namen des zweiten Tenors und des Baritons durch Pseudonyme zu ersetzen und so über alle personellen Wechsel hinweg eine konstante Besetzung zu suggerieren.
War mit dem erneuten Umbruch eine künstlerische Stabilität für die folgenden Jahre erreicht worden, blieb die politische Lage für das Meister-Sextett äußerst fragil. Am 26. April 1937 wurde die Verwendung des bisherigen Zusatzes „früher Comedian Harmonists“ untersagt, des Weiteren aber auch der deutsche Name der Gruppe bemängelt:
„Darüber hinaus möchte ich Ihnen nahe legen, Ihre derzeitige Bezeichnung ‚Meister-Sextett’ einer Überprüfung zu unterziehen. Ohne dies als eine Herabsetzung Ihres Könnens zu empfinden, werden Sie einsehen, dass mit dem Wort ‚Meister’ sich auf künstlerischem Gebiet ganz bestimmte Vorstellungen verbinden, sodass ich diesen Namen für durchaus unangebracht halte. Ich bitte Sie um baldige Aeusserung in dieser Angelegenheit.“
Während der letzten Auslandstournee in Italien im März 1939, v.l.n.r.: Rudolf Zeller (Piano), Fred Kassen, Herbert Imlau (Bariton), Alfred Grunert (2. Tenor), Robert Biberti und Ari Leschnikoff
Ein konkreter Anlass für diese demoralisierende Attacke lässt sich nicht mehr zweifelsfrei feststellen, zitiert sei aber die vieldeutige Erläuterung eines Programmhefts des Meister-Sextetts aus dieser Zeit, die nach einer apologetisch anmutenden Einleitung im Stile früherer Comedian-Harmonists-Pressemitteilungen geradezu anklagend wirkt und mit der Bitte um Unterstützung an das Publikum endet:
„Das Meister-Sextett hat sich bewußt zu den wenigen Schaffenden der heiteren, frohen Richtung gestellt. Es tat es aus der Überzeugung heraus, daß man seine Kräfte dort entfalten soll, wo sie am meisten gebraucht werden. Wenn man oftmals bedauert, daß ein Ensemble von solchen stimmlichen Qualitäten und musikalischen Möglichkeiten sich nicht in den Dienst ernster Musik stelle, so lautet die Antwort darauf: Diese Art der Musik befindet sich meist in den besten Händen, was man von der anderen, der ‚leichten’ Musik nicht sagen kann. Unvoreingenommene Kritik ist nötig und erwünscht, solange sie sachlich bleibt; solange man in ihr den Willen mitzuhelfen, besser zu machen, spürt. Fruchtlos sind nur leere Prophezeiungen, den Tatsachen nicht entsprechende Unterstellungen; fruchtlos ist das Negieren einer Kunstform, ohne eine entsprechende an deren Stelle setzen zu können. Ungerechtfertigt bleibt auch eine Ablehnung, wenn sie nur aus Mangel an Verständnis für die Vorwärtsbewegung der Musik überhaupt geschieht. Von jeher waren die, die mit der Verehrung guter, alter Meister genug getan zu haben glauben und darüber hinaus allem, was heute geschaffen wird – sei es ernst oder heiter – mit Mißtrauen oder Ablehnung begegnen, keine Förderer der Kunst.“
In kleinerer Schrift und in Klammern findet sich nach dem eigentlichen Programmtext der Zusatz: „Diese Ausführungen entstanden vor dem Erlaß des Herrn Reichsministers Dr. Goebbels vom 26. XII. 36 über Kunst und Kritik“. Vermutlich handelt es sich dabei um einen Druckfehler, wurde die so genannte Neugestaltung der Kunstkritik doch bereits am 26. November 1936 von Joseph Goebbels verordnet. „Achtung und Ehrfurcht vor der Leistung des anderen“ forderte dieser in seinem Erlass, mit dem er beurteilende Rezensionen künstlerischer Arbeiten grundsätzlich verbot. Das Meister-Sextett stellte sich mit seinen Ausführungen also bewusst in die Linie von Goebbels Kritik an der Kritik. Es offenbart sich eine Strategie – vergleichbar mit der der Comedian Harmonists –, nationalsozialistisches Vokabular für eigene Zwecke zu nutzen oder sich auf Entscheidungen des Regimes zu berufen. Dass die freizügigen, als provokant zu wertenden Zeilen des Programmhefts gerade deshalb der Grund für die oben zitierte Anfeindung von Seiten der Reichsmusikkammer gewesen sein könnten, erscheint durchaus wahrscheinlich, wenn es auch nicht unumstößlich zu beweisen ist. Es blieb in jedem Falle nicht bei den Bedenken gegenüber dem Namen Meister-Sextett: Am 29. Juli 1937 wurde die „Führung der Decknamen ‚Meister Sextett’ und ‚Comedian Harmonists’“ untersagt, am 8. November ein Nachweis gefordert, „daß die Bezeichnung ‚Meister-Sextett’ aufgegeben ist“, der „bis spätestens 30. April 1938 zu erbringen“ sei. Zudem waren die Rundfunkstationen angewiesen worden, den Namen nicht mehr zu nennen. Das nun einsetzende, zähe Ringen um den Gruppennamen endet am 9. Mai 1938, als „die Weiterführung des Decknamens ‚Meistersextett’“ gestattet wurde.
Die musikalische Leistung der Gruppe hatte sich nach der Umbesetzung von 1936 stabilisiert, selbst in der Berliner Philharmonie war sie wieder zu hören, wenn auch das frühere künstlerische Niveau der Comedian Harmonists bei weitem nicht erreicht wurde. Als zum 1. April 1938 die Schellackplatten jüdischer Künstler aus den Verlagskatalogen gestrichen wurden, bot sich für das Meister-Sextett die Möglichkeit, alte, im Hinblick auf die NS-Kulturpolitik unverdächtige Titel aus dem früheren Repertoire neu einzuspielen. Insgesamt zwölf Lieder wurden aus dem Programm der Comedian Harmonists übernommen und im Mai 1938 abermals auf Platten gebannt, darunter in erster Linie Volkslieder und Titel aus dem klassischen Bereich, daneben aber auch der Comedian-Harmonists-Hit „Ich hab’ für dich ’nen Blumentopf bestellt“. Der Einbruch der Einnahmen, der mit dem Wegfall der Comedian-Harmonists-Tantiemen zu verzeichnen war, dürfte – neben Streitigkeiten mit Biberti und künstlerischen Faktoren – ein Grund dafür gewesen sein, dass Erwin Bootz das Meister-Sextett Ende Juni 1938 verließ.
Dass dem Ensemble damit der Pianist, Arrangeur und künstlerische Leiter verloren ging, mag zunächst einige Schwierigkeiten bereitet haben. Zwar wurde mit Rudolf Zeller ein exzellenter Nachfolger am Klavier gefunden, den Arrangeur Bootz konnte er nicht ersetzen. Fred Kassen, der bereits einige Titel für die Gruppe bearbeitet hatte, war nach Differenzen mit Biberti zu weiteren Arbeiten nicht bereit. So machten sich die beiden verbliebenen Gesellschafter auf die Suche nach externen Bearbeitern, führten Verhandlungen mit dem vokalgruppenerfahrenen Werner Doege, die letztlich scheiterten, und konnten schließlich Bruno Seidler-Winkler und Siegfried Muchow für Arrangements gewinnen. Insbesondere letzterer war, wie die erhaltenen Partituren erahnen lassen, für einen neuen künstlerischen Auftrieb der Gruppe verantwortlich. Seine durchdachten, kreativen Sätze sind von hervorragender Qualität und dürften von großer Publikumswirksamkeit gewesen sein. Der Weggang von Erwin Bootz schien damit nach einer mehrmonatigen Pause bewältigt zu sein, die Aufnahmetätigkeit für die Electrola wurde am 23. November 1938 fortgesetzt, die folgende Konzertsaison erfolgreich bewältigt. Neben einem weiteren Auftritt in der Berliner Philharmonie standen sogar Auslandsgastspiele auf dem Terminplan und führten die Gruppe in die Niederlande und nach Italien. Dass all diese Konzerte mit dem Zusatz Comedian Harmonists beworben wurden, zog neuerliche Einwände der Reichsmusikkammer nach sich.
Die Terminfülle der Konzertsaison 1938/1939 kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Zerfall des Meister-Sextetts unaufhaltsam begonnen hatte:
Die letzten Filmaufnahmen hatte man – für „Fremdenheim Filoda“ – am 27. Mai 1937 gemacht, zwei Jahre später fand auch die Zusammenarbeit mit der Electrola GmbH ihr Ende: „Wir haben eben in unserem Komitée die von Ihnen ausgesuchten Aufnahmen von ‚Bel Ami’ und ‚Penny-Serenade’ noch einmal abgehört und sind einstimmig der Meinung, daß wir diese Aufnahmen – vor allem ‚Bel Ami’ – auf keinen Fall herausbringen können. Es fehlt diesen Aufnahmen an der Lebendigkeit und vortragsmäßigen Differenzierung und Ausgeglichenheit, die Sie sonst als Vorzüge Ihres Ensembles so beachtlich in den Vordergrund stellen.“ Die künstlerische Kritik ist insofern überraschend, als die Gruppe sich durch die neuen Arrangeure eher verbesserte und die Stagnation der Vorjahre überwunden schien. Wenn auch das Schreiben keine endgültige Kündigung des laufenden Vertrages war, zu weiteren Aufnahmen für die Plattenfirma kam es nicht.
Außerdem dürfte es erheblichen Einfluss auf die Stimmung im Ensemble gehabt haben, die Konflikte untereinander nahmen zu. Mit Erwin Bootz hatte auch der Sekretär Hans-Adolf Grafe das Ensemble verlassen, woraufhin Robert Biberti die gesamte Geschäftsführung der Gruppe übernahm. Hatte es vormalig Diskussionen zwischen drei Gesellschaftern gegeben, standen sich nun Ari Leschnikoff und Robert Biberti gegenüber und lieferten sich einen Machtkampf, in den auch die Angestellten involviert wurden. Der größte Streitpunkt war vordergründig die Frage nach der Teilhaberschaft der Mitarbeiter. Fred Kassen, Herbert Imlau und Alfred Grunert war zu Beginn ihrer Tätigkeit beim Meister-Sextett mündlich zugesichert worden, sie würden nach drei Jahren gleichberechtigte Teilhaber des Ensembles werden, ein Versprechen, das Biberti nun nicht mehr einlösen wollte.
Die Auseinandersetzungen gingen soweit, dass Biberti am 8. April 1939 den Präsidenten der Reichsmusikkammer Peter Raabe um eine Schlichtung des Streits bat. Stundenlange Vernehmungen waren die Folge, bei denen Kassen und Leschnikoff Biberti – nach dessen eigener Aussage – unter anderem mit dem Vorwurf, er sei „antinazistisch eingestellt“ und habe deshalb „zum Beispiel bei Konzerten in Italien den Hitler-Gruß verweigert“, schwer belastet und anschließend sogar bei der Gestapo angezeigt hätten. Bei den Interviews zu Eberhard Fechners Fernsehdokumentation lieferten sich Biberti und Leschnikoff ein regelrechtes Fernduell über die damaligen Vorgänge, die aus heutiger Sicht nicht mehr im Detail nachzuvollziehen oder zu bewerten sind. Ein Schreiben Rudolf Zellers an Biberti gibt eindrucksvoll Aufschluss über den Zustand des Ensembles: „Du weißt selbst, daß die Stimmung der Mitglieder untereinander sich von Tag zu Tag verschlechtert hatte. Wer daran Schuld hatte, wollen wir dahingestellt sein lassen. Für mich aber ist es kein Vergnügen, kreuz und quer durch Deutschland zu fahren mit Menschen, die sich tagtäglich gegenseitig beschimpfen, oder sich aus dem Wege gehen, oder sich bedrohen, bei jeder Gelegenheit zum Kadi laufen und angehäuft mit Neid, Mißgunst und falschem Geltungstrieb den kleinen Kollektivkreis immer wieder in Parteien und Einzelgänger aufteilen.“ Wie Zeller die umgangene Schuldfrage beantwortet hätte, lässt sich wohl aus den Konsequenzen des andauernden Konfliktes schließen: Am 23. Mai schlossen Imlau, Kassen, Leschnikoff und Zeller einen Vorvertrag, in dem sie sich gegenseitig zusicherten ab 1. September 1939 „zu gleichen Teilen und Rechten in finanzieller sowie künstlerischer Hinsicht“ zusammenzuarbeiten, „nicht mehr in irgendwelche Geschäftsverbindung mit Herrn Robert Biberti“ zu treten, alle Schritte zur Auflösung des bestehenden Meister-Sextetts „nur nach gemeinsamer Ueberlegung geschlossen zu unternehmen“ und diese „Vereinbarungen absolut geheimzuhalten“.
Dass die Übereinkünfte nicht in die Tat umgesetzt werden konnten, lag an der politischen Situation – mit dem Ende der Sommerpause am 1. September hatte der Angriff des Deutschen Reichs auf Polen einen Krieg begonnen, der sich später zum Zweiten Weltkrieg entwickeln sollte. Leschnikoff kam aus seinem Urlaub in Sofia nicht mehr zurück nach Berlin: „Als ich wieder nach Deutschland zurückfahren wollte, wurde ich als Reserveoffizier zum Reservedienst eingezogen, wurde mobilisiert und kam an die türkische Grenze“, schilderte er die Situation 1973 in einem Schreiben an Bootz. Biberti kündigte am 9. September 1939 allen Ensemblemitgliedern und begann einen Rechtsstreit mit Leschnikoff um Regresspflicht und Schulden – an eine weitere Zusammenarbeit der beiden Comedian Harmonists war nicht mehr zu denken.
Robert Bibertis Versuch, die Gruppe zu erhalten, gestaltete sich schwierig: Herbert Imlau war zu seiner früheren Gruppe, den Spree-Revellers, die sich nun Fünf Melodisten nannten, zurückgekehrt, Rudolf Zeller hatte Biberti schon im August 1939 eine unmissverständliche Absage erteilt, Fred Kassen war wegen der persönlichen Differenzen kein Ansprechpartner mehr. Lediglich Alfred Grunert war von der vorigen Meister-Sextett-Besetzung noch mit von der Partie. Die Suche nach weiteren Sängern und einem Pianisten wurde durch den Krieg und die Einberufungen zum Militär erschwert, erst im Sommer 1940 war eine neue Formation gefunden. Der Niederländer Willy Vosmendes – eigentlich Willem Hendrik Vos –, der schon Mitte der 1920er Jahre erstmals in Berlin tätig war, stieß als erster Tenor zum Ensemble. Sein Landsmann Bernhard Taverne, mit richtigem Namen Bernard Diamant, übernahm den Bariton-Part, dritter Tenor wurde Erwin Sachse-Steuernagel, der seit 1933 in Berlin ansässig und als Schauspieler und Sänger tätig war, als Pianist kam Willi Herrmann. Für den Bass und Boss war der Neustart auch die Gelegenheit, noch einmal eindringlich um Erlaubnis zu bitten, den Namen Comedian Harmonists fortführen zu dürfen. Auf Empfehlung von Oberregierungsrat Feige vom Propagandaministerium wandte er sich direkt an Goebbels, dessen Antwort über einen Mitarbeiter kurz und knapp ausfiel:
„Ihrem Antrage auf Weiterführung des Zusatzes kann zur Zeit nicht entsprochen werden, da der frühere Name zumindest für die jetzige Kriegszeit untragbar ist und allgemein als Verstoß gegen das nationale Empfinden empfunden werden dürfte.“
Vom Krieg war der Neuanfang des Meister-Sextetts nicht nur im Bezug auf die Namensgebung überschattet: Nach und nach wurden einzelne Ensemblemitglieder zum Frontdienst eingezogen und mussten neuerlich ersetzt werden. Anträge auf Freistellung wurden für Erwin Sachse-Steuernagel ebenso abgelehnt wie für Anton Krenn, der ihn ersetzen sollte, um eine bereits abgeschlossene Konzertreise durch Norwegen im Frühjahr 1940 im Rahmen der Truppenbetreuung absolvieren zu können. Als in Günter Schroeder endlich ein Ersatz gefunden war, wurde Willi Herrmann einberufen. Diese unüberbrückbaren Hindernisse lassen das vermeintliche Verbot des Meister-Sextetts überflüssig erscheinen. Einzig Robert Biberti bezeugt es in der Formulierung, die auch Peter Czada und Günter Große übernehmen und auf den 24. November 1941 datieren:
„Die Darbietungen Ihres Ensembles sind nicht geeignet, den Wehrgedanken im deutschen Volk zu stützen.“
Zweifel an dem Verbot sind darin begründet, dass das entsprechende Schreiben weder im Nachlass Biberti noch im Comedian-Harmonists-Archiv erhalten ist und auch den Autoren Czada und Große nicht im Original vorlag. Dass bei der umfassenden Archivierungsarbeit Bibertis genau dieses entscheidende Schriftstück verloren gegangen sein soll, erscheint unwahrscheinlich, zumal ein Brief der Reichsmusikkammer gleichen Datums vorliegt, in dem es jedoch um den so genannten Arier-Nachweis der neuen Mitglieder geht. Möglicherweise wollte Robert Biberti mit dem angeblichen Verbot das Ende des Meister-Sextetts dramatisieren, um so die eigene Position in der Jahrzehnte später erfolgenden Auseinandersetzung mit der Emigrantengruppe und der persönlichen Entscheidung im Jahr 1935, Deutschland nicht zu verlassen, zu stärken. Vermutlich hat das Meister-Sextett schlicht aufgehört zu existieren, die Kriegszustände samt Einberufungen machten die Fortführung des Ensembles unmöglich.
Einzelne Bemühungen der ehemaligen Meister-Sextett-Kollegen, nach Ende des Weltkriegs ein neues Ensemble aufzubauen, verliefen mehr oder weniger erfolglos. Während Erwin Bootz an der Neuen Scala in Berlin mit acht Damen die „Singing Stars“ formierte, schrieb Robert Biberti an Konzertagenturen, das Ensemble Comedian Harmonists sei „unter der Leitung seines Gründers und Bassisten Robert Biberti im Wiederaufbau begriffen“. Die Hoffnung, dieses werde „in absehbarer Zeit mit einer Leistung, die seiner Weltberühmtheit entspricht, wieder vor der Öffentlichkeit erscheinen“, erfüllte sich nicht. Nur Herbert Imlau gelang es, sein „Comedien-Quartett“ auf Jahre zu etablieren, wenn die Gruppe auch – nach anfänglich klavierbegleiteten Aufnahmen – mit dem Stil der Comedian Harmonists nicht mehr vergleichbar war. Als Begleitung von Schlagersängerinnen und -sängern wie René Carol, Jupp Schmitz oder Lonny Kellner erreichte das Quartett zwar eine gewisse Bekanntheit, mit der Beliebtheit und den Erfolgen der Comedian Harmonists in den 1930er Jahren konnte sie zweifellos nicht mithalten.
Bei folgenden Zeitzeugen, Sammlerfreunden und Historikern möchte ich mich für die großartige Hilfe bei meinen Recherchen ganz herzlich bedanken: Uwe Berger, Helli Bootz (†), Hans Buchholze, Dieter Doege, Dr. Reinhard Figge, Henk Hofstede, Michael Hortig, Eva Imlau (†), Karsten Lehl, Bernd Meyer-Rähnitz, Andreas Schmauder, Andreas Sengeleitner, Monika Sengeleitner, Géza Gábor Simon und Hans Rudolf Zeller. Zu besonderem Dank bin ich Jan Grübler und Theo Niemeyer verpflichtet – ohne ihre Unterstützung der Recherchen wäre dieser Artikel nicht möglich gewesen. Allen Interessierten sei zudem das aktuellste Buch zum Thema von Douglas Friedman ans Herz gelegt (www.comedianharmonistsbook.com). Außerdem sei das Album „Küss mich!“ von ensemble six empfohlen (www.78rpmmusic.de), das neben bekannteren Titeln vier Arrangements des Meister-Sextetts enthält, die nie auf Schallplatte eingespielt wurden, sondern lediglich im Nachlass Bibertis als Notenpartituren erhalten blieben und nun erstmals wieder originalgetreu zu hören sind.
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