Die erste deutsche Jazzplatte - Tiger Rag & Excentric Band 1919

...aber wer war Bandmaster F. Groundzell...?

von Jonathan Wipplinger (USA) & Ulrich Biller (Formiggini)




Bild: Rainer Lotz

Tiger Rag - Original Excentric Band, Leitung: F. Groundzell - Homokord B-557
12. Dezember 1919, Berlin

Die Aufnahme stammt von dem Redhotjazz.com (leider nicht mehr aktiv!)

Die Überspielung auf Redhotjazz.com hört sich für uns als zu langsam an - die Beckenschläge und die Holzblöcke des Schlagzeugers klingen sehr unnatürlich. Die Aufnahme wurde hier etwas beschleunigt wiedergegeben, bis sich diese zwei Instrumente "natürlich" anhörten.

Nach der Geschwindigkeit bei Redhotjazz.com (und anderen Überspielungen) hätten die Musiker in A-Dur spielen müssen. Das bedeutet für transponierende Instrumente wie Trompeten und Klarinetten eine schwerer lesbare Notation mit 5 Vorzeichen (H-Dur). In Bb-Dur hingegen (transponiert C-Dur) hat der Bläser hingegen KEINE Vorzeichen zu beachten. Dies erscheint erst mal logischer und einfacher. Die ODJB spielt das Stück in Bb-Dur, also einen halben Ton höher, als die Groundsell-Platte. Damit sind sie in der Tonart der hier "beschleunigten" Version. Mit der veränderten Geschwindigkeit klingt es schon nicht mehr so plump, wie oft beschrieben.


In heutigem Licht ist es sogar etwas fraglich ob diese Einspielung den Titel "erste deutsche Jazzplatte" zu Recht trägt. Als solche hat sie sich zwar in der Jazzhistorie eingebürgert - dies resultiert jedoch vor allem aus den Tatsachen:
  • - Titel: Tiger Rag

  • - Eine Excentric Band

und
  • - Jazz One-Step auf dem Etikett

Tatsächlich gab es bereist vor dieser Aufnahme vom 12. Dezember 1919 den Namen "Jazz" auf Schallplatten - Etiketten zu lesen. Diese Einspielungen hatten jedoch noch weniger mit der Musik Jazz zu tun als diese Aufnahme... Dazu mehr: JOHNSONS JAZZ TIME BAND 1919


Die Aufnahme, speziell der Kapellmeister "Mr. Groundzell" stellte für viele Jahrzehnte ein großes Rätsel dar. Zunächst wurde vermutet: die Aufnahmen entstanden in London - Falsch!
Dann: es handelt sich um eine amerikanische Militärkapelle - auch falsch....
Das größte Problem: Der Name ist auf dem Etikett falsch geschrieben. Korrekt heißt es Mr. Groundsell (nicht mit z). Dieser Mr. Groundsell war in Berlin bereits ein alter Bekannter. Allerdings unter dem Namen "Mr. Mazzeltopp (Masseltof) aus Chicago"...




Frank Douglas Groundsell
1. Juli 1889 (Southampton) - 26. Februar 1941 (Glasgow, Schottland)



c. 1913 in Berlin
Bildquelle: Familie Songhurst; Nachfahren von Frank Groundsell

Frank Groundsell wurde c. im August/September 1889 in der Süd-englischen Hafenstadt Southampton geboren. Die Mutter Evelyn Elizabeth Groundsell (geb. Pegge, 1865 - 1946) hatte neben Frank noch eine Tochter Doris Adelaide und einen weiteren Sohn. Der Vater Bernard arbeitete zunächst bei der Marine, um 1894 eröffnete er eine Kneipe: "The Dorchester Arms". Schon dort trat der junge Knabe geschminkt als Clown auf - und es machte ihm Spaß. Nicht viel später erlernte er das Banjo. Mit von Kohle geschwärztem Gesicht trat er schon als kleiner Junge (der Vater wusste es nicht...) in Shows auf. Nach einer "Väterlichen Ermahnung" wurden diese Aktivitäten jedoch eingestellt. Nebenbei sang er in einem Chor. Hier wurden ihm auch die Grundlagen im Spiel des Kornetts (eine gedrungene Trompete) beigebracht.

Bereits im jungen Alter (1900) wurde Frank von seinem Vater als Kadett auf das Schulschiff "Mercury" geschickt. Hier vollzog sich seine schulische, aber auch eine militärische Ausbildung. Laut seiner Autobiographie machte ihm zwar der Sport und die Kletterei auf dem Schiff Spaß - der militärische Drill weniger.

Nach Beendigung der Ausbildung auf dem Schiff arbeitete er einige Zeit in einer Fabrik für chemische Erzeugnisse. Zeit seines Lebens hatte es Frank Groundsell wohl weniger mit der "Sesshaftigkeit". 1903 besuchte eine Varieté-Gruppe aus Akrobaten und Musikern Southampton. Er beschloss, noch ein Jugendlicher, mit dieser Gruppe auf Reise gehen zu wollen. Tatsächlich willigte der Vater (nach viel Überredung) schriftlich ein und gab ihm noch etwas Geld mit auf den Weg.

Frank Groundsell war nun die nächsten Jahre Teil der Varieté-Gruppe (Music-Hall Artists) "The Zerbinis", teilweise auch unter dem Namen "The Eight Zerbinis". Neben Mister und Madame Zerbini bestand die bunte Truppe meist aus vier Mädchen und zwei Jungen. Geboten wurde eine bunte Mischung aus Variete, Clownerei, Akrobatik, Musik und Gesang. Neben den üblichen Clownerein spielte der Knabe in der Truppe auch Banjo. Der junge Frank konnte zwar (Zeit seines Lebens) keine Noten lesen, wurde jedoch bei einzelnen Nummern gelegentlich als "akrobatischer Dirigent" herausgestellt. Im Grunde blieb er dies während seiner gesamten Karriere...

1904 traf die Truppe während einer Tournee auf das berühmte amerikanische Orchester von John Phillip Sousa. Beeindruckt von den Marsch und Ragtime Nummern dieses Orchesters wurde eine Imitation des Dirigenten Sousa ins Programm aufgenommen. Der geschminkte Dirigent der Show - Frank Groundsell.

Im Mai 1911 zerfiel die Zirkus Gruppe. Groundsell gründete daraufhin eine eigene Truppe: "The four Wagners". Warum Wagner ist ungeklärt. Die "Four" (4 Wagners) erklärte Groundsell später mit den vier unterschiedlichen "Charakteren" die während der Show präsentiert wurden: "..."eine Mischung aus Sousa, Nijinsky, Charlie Chaplin und Tarzan"... Nun trat er auf eigene Verantwortung in Music Halls auf. Bei der Volkszählung 1911 war Frank Douglas Groundsell wieder in Southamton, Hampshire gemeldet. Zeitweise versuchte er sich auch (von Houdini beeindruckt) als Zauberkünstler. Im Herbst 1912 wurde ein Josef König in London auf ihn aufmerksam - neuer Besitzer des Kerkau Palast in Berlin.




Noch ohne ein Wort Deutsch zu können, engagierte Josef König ihn als Dirigenten für sein Orchester in Berlin. Die ersten Nummern die er der dortigen Salon-Kapelle beibrachte waren: Dixie, Alexanders Ragtime Band und Baby Doll...

Excentric...


Die Unterhaltungskultur in Berlin um und nach 1910 war sehr anglophil und auch amerikanisch geprägt. Beliebt waren vor allem sogenannte "Excentric-Künstler".

Wintergarten 1910



Es gab Excentric-Sänger, Excentric-Parodisten, Excentric-Akrobaten usw. Aber auch Excentric-Dirigenten. Diese "dirigierten" ihre Orchester meist von einer recht wilden Show begleitet. Pistolenschüsse, zerschlagene Instrumente und wildes Geschrei gehörte ebenso zum Programm wie die neueste "Ragtime Musik" aus den USA. Einer der bekanntesten "Dirigenten" dieser Art in Berlin war Mr. Meschugge.

Im April 1910 eröffnete in Berlin der Kerkau Palast. Auch hier "leistete" man sich einen Excentric-Dirigenten: Mr. Glasnek.





September 1913



Anfang 1913 kam Frank Groundsell nach Berlin. Es gab hier mittlerweile die "Rag-Time six" - Original Vorführungen neuester amerikanischer Tänze... oder auch die obskure "Alexander´s Ragtime Band" - Das verrückte amerikanische Radau - Ensemble neben den "Werds Brothers - Die komischsten Humpsty - Bumpsty - Akrobaten. Wie geschaffen für unseren Künstler der sich irgendwo zwischen Zirkus-Akrobatik, Ragtime und anderen Varieté- Künsten bewegte.

Nach eigenen Angaben spielte er in England in den Varietés und Kabaretts (Music-hall) gelegentlich Kornett, in Berlin betätigte er sich aber überwiegend als Dirigent. Recht akrobatisch leitete er dann eine der Kapellen im Kerkau Palast als Excentric-Dirigent.

Mister Maseltop aus Chicago


In Berlin gab sich Frank Groundsell (aus ungeklärten Gründen) weiterhin als Frank Wagner aus. Der deutschen Sprache mächtig bemühte er sich zunächst, (über einen Baron) einen deutschen Pass zu erhalten - dies scheiterte. Freunde rieten ihm daraufhin sich als Amerikaner auszugeben. Man beriet über einen neuen Namen. Einer seiner jüdischen Freunde schlug "Mister Mazzeltop Shiker-Goy" vor (sinngemäß aus dem jiddischen soviel wie "Mister Good-Luck Cracy-Man...), man einigte sich dann aber auf "Mister Mazzeltop aus Chicago".



Sammlung Jonathan Wipplinger, USA


Im Kerkau - Palast, Behrenstraße 48, tritt unter nicht endenwollendem stürmischen Beifall der durch Krankheit längere Zeit verhindert gewesene excentrische Kapellmeister Mr. Maseltop aus Chicago wieder auf, der ein Liebling des Publikums geworden ist. Die Leitung des Unternehmens hat mit der bisherigen Auswahl ihrer excentrischen Kapellmeister stets das Richtige getroffen.

Mr. Maseltop versteht es ebenso wie sein Vorgänger, die berühmte Kanone Mr. Glasneck, neben seinen Darbietungen, die auf das Publikum immer sehr anregend und belustigend wirken, auch die Leitung seines Orchesters auf einem künstlerischen Niveau zu halten. Im Parterre spielen nach wie vor mehrere erstklassige Salonorchester...
18. Januar 1914




Wohl Anfang 1914 bereist Max Winter (Journalist, Schöpfer der Sozialreportage und später Vizebürgermeister von Wien) die Vergnügungsmetropole Berlin. Sein Bericht, veröffentlicht in der "Arbeiter - Zeitung", Wien, Nr. 66 am 8. März 1914, gibt ein faszinierendes Spiegelbild der Berliner Unterhaltungs-Szene kurz vor Ausbruch des ersten Weltkrieges.



Der komplette Artikel ist unter Link - Hier klicken zu lesen
Forschung & Sammlung: Konrad Nowakowski, Wien


Im Mittelpunkt seiner Reisebeschreibung steht ein Mr. Maseltop aus Chicago, der jeden Abend im Kerkau Palast auftritt:

Wie ganz anders im ersten Stock. Dort herrscht Mister Maseltop, der erste seiner Art, dem Mister Meschugge, der anderswo seinen Taktstock schwingt, nicht Konkurrenz zu machen vermag. Der amerikanische Excentriker W a g n e r, der hier als Mister Maseltop das Orchester leitet, ist das trolligste Springinkerl, das man sich denken kann. Die Sucht, Neues zu bieten, hat ihn geboren. Musik hat jedes Kaffeehaus, aber einen Kapellmeister, der von 8 Uhr abends bis 6 Uhr früh die drolligsten Streiche zur Orchesterbegleitung aufführt, den kann sich nicht jedes Kaffeehaus leisten.

Manchmal glaubt man, in ein Tollhaus geraten zu sein, so lärmend und eigenartig geht es auf der kleinen offenen Bühne zu, die dem Kapellmeister als Schauplatz seiner Tätigkeit eingeräumt ist. Er ist nicht mehr ganz jung, der schlanke Mensch, der da oben in weißen Tanzschuhen steht, gehüllt in einen Frackanzug, der mit roten Borten an der Hose und am Kragen und innen rot gefüttert, auf daß er mit den Schößen auch komische Farbenwirkungen hervorbringen können soll. Ein einziges großes Zerrbild aller Kapellmeister - Figuren ist sein Taktschwingen.

Mit komischen Pathos begleitet er die ersten Töne des Orchesters, jetzt tanzt er im Takt, nun stürzt er sich auf das Orchester, beschwichtigt, beschwört, besänftigt es, jongliert mit dem Stocke, tanzt Cakewalk, schlägt ein Rad und treibt mit Händen und Füßen zum Fortissimo - ein Hochsprung, steif auf die Sohlen platscht er auf, aber der Platscher deckt sich mit dem Trommelschlag, oder er nimmt einem Musiker pantomimisch Schweißperlen von der Stirn und schleudert sie ins Orchester - damit wieder einem Trommelschlag anzeigend, der auch niederfällt und das Aufklatschen des Schweißtropfens darstellt - alles in ihm ist Leben und Bewegung, hundertfältig seine Künste als Damennachmacher, als Spanierin mit dem Kastagnettenspiel, als Radfahrer, mit Tierstimmen, Vogelgezwitscher und Hundegebell lockt und befeuert er die Musiker und plötzlich macht er über das Harmonium einen Froschsprung ins tiefer gelegene Orchester, um gleich darauf mit einem Froschkopf aus dem Sumpf aufzutauchen. Und Berlin lacht und brüllt und klatscht.

Nach elf Uhr wird er richtig lebendig. Zuerst kommt der lustige Barbier, ein Clownspaß mit Riesenwerkzeug, als dessen Opfer sich nicht nur das Volk der Artisten und Mitglieder der "amerikanischen Ecke" über dem Orchester hergeben, sondern manchmal auch einer aus der Schar der Gäste - ein zweitesmal wohl nicht mehr. Mit einem Holzlöffel wird dem Opfer der Seifenschaum über das ganze Gesicht geschleudert, dick aufgetragen und dann kommt Maseltop mit einem Rasiermesser von der Länge eines Drittelmeters und schert den Schaum herunter, um ihn sofort vom Messer abzuschlecken und zu essen. Daß es Schlagobers (Sahne) ist, das da aufgetragen war, ändert nichts daran, daß ein guter Magen dazu gehört, den Spaß mitanzusehen, auch dann, wenn sich ein "süßes Mädel" als Opfer hergibt. Aber guter Magen hin, guter Magen her, den tausend entzückten Besuchern gefällt der Spaß so, daß ihn Maseltop jede Nacht wenigstens einmal bringen muß.

Auch der Untergang der "Titanic" muß zum Vergnügen herhalten. Alles muß die Musik vortäuschen: den Abgang des Schiffes, das Fahren, die bewegte See, den Sturm, den Untergang, die Rettung, die Ankunft der Geretteten in New York. Maseltop aber stellt alle Personen in einer dar - den zu spät kommenden Fahrgast, den Seekranken, den beruhigenden Kapitän, den Ertrinkenden und den Retter. Verkleidung und Instrumente müssen helfen. Dann stellt er Amerika vor, den Messengerboy, "eine Indian mit der Pleruse", "eine Neiger mit die schwarzes Gesicht" - dazu natürlich der Niggertanz und Sternenbanner und hoch gehen die Wellen des Patriotismus in der amerikanischen Ecke. Dann geht es "wieder nach Bärlin, nach Kerkaupalace" - auch die deutschen Patrioten müssen auf ihre Rechnung kommen und - die Polizei, in deren Macht es liegt, das Offenhalten nach 11 Uhr zu untersagen. So gibt es denn nach 11 Uhr patriotische Einlagen (man muß sich doch verhalten) und die Ankündigung: "nach Kerkaupalace" ist das Zeichen, daß die Kapelle mitten aus dem Niggertanz übergeht zu "Heil dir im Siegerkranz". Hinter dem Orchester öffnet sich ein Vorhang und in bengalischem Lichte wird die Büste Wilhelms sichtbar.

Berlin rast und rast noch mehr, als Maseltop ein schwarz-weißes Fähnlein schwingt, und dann stampfen, brüllen, klatschen, schreien alle, wenn noch das zweite Fähnlein dazu kommt, das amerikanische Sternenbanner. Schwingt der musikalische Clown beide - dann ist der ganze Saal entfesselt.

Lassen wir es für heute genug sein.



Der Kriegsausbruch im Sommer 1914 überraschte unseren Engländer in Berlin wohl etwas. Unter Angabe einer fiktiven Adresse in den USA und mit Fürsprache von Josef König sowie eines nicht näher genannten Barons als Zeugen seiner amerikanischen Herkunft, beantragte er in der amerikanischen Botschaft einen Pass. Er erhielt auch tatsächlich einen "Notfall-Pass" (Emergency Passport) der seine neue Herkunft belegte...

Aus Groundsells Passantrag auf der Amerikanischen Botschaft in Berlin, Dezember 1914



Dies mag sich heute alles recht abenteuerlich anhören - tatsächlich war die (Reise) Welt vor dem ersten Weltkrieg um einiges freier als heute. Es gab keine Pass- oder Ausweis-Pflicht. Wer das entsprechende Einkommen besaß, konnte ohne jegliche offizielle Papiere von Alaska bis nach Australien reisen - nur der "Name" zählte. Diesen konnte man sich - in der größten Not - auch erkaufen...

Die nächsten zwei Jahre trat er nun (nach eigener Aussage immer mit einer kleinen amerikanischen Flagge aus der Brusttasche ragend) als Amerikaner recht erfolgreich im Kerkau Palast und anderen Spielstätten auf. Nach eigenen Angaben "dirigierte" er aber auch z.B. einmal ein Berliner Polizei-Orchester!

Ab 1915/16 nimmt seine später verfasste Autobiographie eine recht abenteuerliche Wendung: Während einer kurzen Reise nach Amsterdam wurde er vom englischen Geheimdienst angeheuert! Nach eigener Aussage arbeitete er dann bis Kriegsende als englischer Agent. Die eher unwichtigen Botschaften will er in Notenblättern verschlüsselt zwischen Berlin und Holland ausgetauscht haben.

Tatsächlich tritt er ab 1916 überwiegend in Holland auf. Dafür kommen jedoch auch andere Gründe in Frage: Die Unterhaltungskultur kommt in Berlin immer mehr zum Erliegen - die Versorgung mit Nahrungsmitteln wird immer schlechter.

Ein "Mister Masseltof" kommt Ende April 1916 als Teil einer Zirkus-Show in Rotterdam an. Bereits ab Mai 1916 vermarktet er sich wieder (nun mit eigenem Orchester) recht geschickt als Mister Masseltof aus Chicago - Amerikanischer Excentric-Dirigent


16. Mai 1916


Die nächste Zeit tritt er überwiegend in Rotterdam und Amsterdam auf.

Mr Masseltof - Frank Groundsell in Holland
1916 - 1919



September 1916



April 1917



September 1917


Interessanterweise gibt er sich auch in Holland als Deutsch-Amerikaner namens Frank Wagner aus. Dieser Name (Frank Wagner) findet sich bis heute in der Niederländischen Jazzliteratur. Der Clou fliegt erst auf, als Groundsell Ende 1917 in Zahlungsschwierigkeiten gerät.

Insolvent April 1918

Im Frühjahr 1918 wird über J. (sic !) Groundsell ("sich Mr. Masseltof nennend"...) das Insolvenzverfahren eröffnet. Anfang April 1918 wird dieses in Rotterdam mangels (pfändbarer) Masse wieder eingestellt. In einem weiteren Vermerk heist es dann auch richtig: "F. Groundsell, zich noemende mr. Masseltof, Kruisstraat 7a, Rotterdam..."



Von den finanziellen Schwierigkeiten wohl unbehelligt tritt er weiterhin in den Niederlanden auf. Zum 1. März 1919 gibt Mr. Masseltof dann in Rotterdam sein "Abschiedskonzert". Kurz danach kam er wohl wieder nach Berlin.



Hier entstanden dann im Dezember 1919 die legendären ersten "Jazzplatten" unter seiner Leitung. Neben deutschen Musikern könnten hier auch einige holländische Kollegen so steif vom Blatt gespielt haben.

15983 Indianola
15984 Tiger Rag
15985 Maseltop Rag (J. Grit)
15986 Raggin the scale
15987 The dilemma of the regiment
15988 Harmony Rag
?
?
15991 Chicken Reel
15992 Hungarian rag
15993 O you drummer (with drumsolo)
15994 All abroad from dixie land


Ungeklärt sind noch die Auftrittsorte während dieser Zeit. Möglicherweise spielte Groundsell auch wieder im Kerkau Palast.

22. November 1919




Ende 1920 verlässt Masseltop/Groundsell Berlin. Zunächst geht es nach Prag. Hier tritt er im Varieté Sanssouci auf. Beworben wird er als "americký kapelník Masseltop" oder auch “Pani Kapellnischky Maseltofoski”.


Ab Februar 1921 hält sich Groundsell wieder in London auf. Auch hier mimt er (unter anderem im "Trocadero") weiterhin den "wilden" Dirigenten. Auftritte sind 1923 aber auch im "Café de Madrid" in Brüssel belegt.


14. April 1923


Die nächste "Notiz" findet sich 1924. Etwa im Mai 1924 heiratet er in London Elsa Fleischer - eine Deutsche. In seinen eigenen Erzählungen bereiste er 1927 nochmals "recht erfolgreich" Deutschland. Interessanterweise gab er sich diesmal als "Mister Miseltoe" aus. Tatsächlich war dieses "Comeback" nicht sehr erfolgreich, wie dieser Bericht aus dem Kaffee Viktoria in Berlin vom Frühjahr 1927 zeigt:




Als Attraktion engagierte er den Kapellmeister Miseltoe. Der hieß vor dem Kriege Masseltopp und ist der Typ des "Mister Meschugge". Das war eine Mode, die vor dem Kriege grassierte. Vor dem Orchester springt der Dirigent als Akrobat herum, tanzt mit dem Stab in der Hand, schneidet Grimassen, grölt in sein Musikkorps hinein. Vor zwanzig Jahren haben die Berliner darüber gelacht. Inzwischen sind wir durch die Schule der großen Komiker Chaplin, Pallenberg, Grogt gegangen - unser Humorhunger ist zarter, vornehmer, anspruchsvoller geworden. Dieser Miseltoe - Masseltopp schmeckt uns heute nicht mehr...


Seine Show, eine Mischung aus Zirkus-Artistik und exzentrischem Dirigent, war im Zeitalter von Jazzbands und der einsetzenden Big-Band Ära nicht mehr gefragt.

Ende der zwanziger Jahre betreibt er in Hamburg das bekannte "Bieber - Café". Die Weltwirtschaftskrise bereitet diesem Unternehmen jedoch ein schnelles Ende. Anfang der dreißiger Jahre ist Frank Groundsell wieder in England.

Zunächst lebt er (zusammen mit seiner Frau) wieder in Southampton bei seinen Eltern. Dann eröffnet er eine Pension - auch dies scheitert.
Arbeit wird immer seltener. Frank Groundsell heuerte wieder zur See an. Bei der White Star Line (u.a. ehemaliger Betreiber der berühmten Titanic) findet er vorübergehenden Arbeit als Steward bzw. Butler. Nebenbei versucht er sich auch als Staubsauger-Vertreter, Koch, Kellner, Anstreicher und kurzfristig auch als Schmuggler. Am Tiefpunkt angekommen, wird er im März 1934 in England zu drei Monaten Zwangsarbeit verurteilt. Den Grund nennt der kurze Artikel nicht.

17 March 1934
FORMER MUSICIAN

and subsequently an on the White Star Line, Frank Douglas Groundsell (44), of Orsett-terrace, Paddington, was sentenced at the Marylebone Police Court to-day to three months' hard labour. Groundsell was also said to have conducted bands in Streatham, Woolwich.
Gloucestershire Echo Gloucestershire, England


Möglicherweise war der Grund Bettelei, welche damals in England unter Strafe stand. Fast zeitgleich findet sich sein Name auch in einer französischen Zeitung:



Das Unglücksjahr 1934 war nicht leicht für die Künstler. Neulich zum Beispiel war Paul Poiret gezwungen, sich arbeitslos zu melden. Die Situation ist auch in England nicht weniger schwierig. Das zeigt sich an einem der berühmtesten Orchesterchefs jenseits des Ärmelkanals, Frank Groundsell: Er musste sich durch die Härte der Zeit aufs Betteln beschränken [ – entscheidendes Wort: mendicité – Bettelei, Bettelstand, Schnorren!]. Wie Poiret wird er „le dole“ beantragen. [Wegen der Anführungsstriche vermutlich ein umgangssprachlicher Ausdruck – vielleicht für Unterstützung, Sozialhilfe o.ä.?]


Einer der letzten Auftritte findet sich im Juni 1935. Groundsell tritt wieder in Holland auf.




21. Juni 1935

"mesjokken" = verrückt, meschugge / "Der verrückte Kapellmeister Masseltof"


Zunächst erregt er in dem neuen Cafe "Karsenboom" in Amsterdam wieder einiges an Aufsehen - der Artikel berichtet jedoch auch von schnell nachlassendem Interesse an seinen veralteten Nummern.



The Lunatic Spy, Frank Groundsell 1936


Mit einer Autobiographie versucht Mr. Mazzeltop / Frank Groundsell 1936 zu etwas Geld zu kommen - wohl leider nicht sehr erfolgreich. Er stirbt 1941 in Schottland im Stobhill Hospital, Glasgow - einem Armenkrankenhaus.

Der lang verschollene Schöpfer der "ersten deutschen Jazz-Schallplatte" aus dem Jahr 1919 wurde 52 Jahre alt.


Im Grunde liest sich seine (Auto) Biographie wie ein einziger Abenteuerroman: Ein sich als Amerikaner ausgebender Agent des britischen Geheimdienst nimmt 1919 in Berlin die erste deutsche Jazzplatte auf...

Tatsächlich ist seine Autobiographie sehr "ehrlich" geschrieben. Er spricht darin auch sehr offen über seine Alkoholprobleme, die ihn während seiner Karriere begleiteten. Viele der (von ihm) angegebenen Daten zu Auftritten ließen sich anhand von historischen Dokumenten belegen. Auch für seine Agententätigkeit fanden sich keine "Gegenbeweise". Interessanterweise wird die Aufnahmesitzung vom Dezember 1919 nicht erwähnt.

Besonderer Dank an Familie Songhurst/Groundsell für die bereitgestellten Unterlagen und Dokumente!

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