Weißblaue Drehorgel
na hörst oi Register mitsamma;
Des klingt a so zimpfti, des klingt a so wuid,
da gibt’s dafür gar koan Nama!
Und g’freut di dei’ Lebn net und pfeifst scho bald drauf,
koa Dokta huift da, koa Professa,
aber na spuit dir de Weißblaue Drehorgel auf,
na werd’s da scho wieda bessa!
Noch heute werden ältere Bayern dieses Lied bestens im Ohr haben, war es als Titelmelodie der Rundfunksendung „Weißblaue Drehorgel“ in den 1950er Jahren doch zur besten Sendezeit zu hören. Dass die Ursprünge dieses Liedes – wie auch der Weißblauen Drehorgel selbst – viel weiter zurückliegen, wissen heute hingegen nur noch die wenigsten, am ehesten die, die einmal eine der vier Schellackplatten der originalen Weißblauen Drehorgel in die Sammlung bekommen haben und sich – je nachdem, ob sie der bairischen Mundart kundig sind – für die liebevoll-sprachspielerischen Texte begeistern konnten.
Gründer, Komponist, Texter, Klavierbegleiter und somit Herz des Ensembles war Dr. Otto Kuen, auf dessen brillanter Autobiographie ich den folgenden Beitrag aufbauen darf. Aus einer musikalischen Familie stammend hatte Otto Kuen bereits in der Schulzeit damit begonnen, inspiriert von Jazz und Tanzmusik eigene Melodien zu komponieren. „Dabei ärgerte mich, daß das Deutsche im Vergleich zum Englischen bei dieser Musik so unbefriedigend klang. Da machte ich einen Versuch mit dem Bairischen. Ich schrieb einen English Waltz mit dem Titel ‚Da Loabetoag’ in dem der Diphthong oa Orgien feierte; aber auch andere Vokale durften sich entfalten, so, wenn der Bäckermeister gefragt wird: ‚ – oder rüahrst du heit dein Toag mit Vitrioiöi o’?’ Meine Freunde waren begeistert, besonders da das neue Produkt neben der klanglichen Wirkung auch eine komische hervorrief, die sich durch den Kontrast zwischen der Musik, die an eine versnobte Tanzteegesellschaft erinnerte, und dem Text ergab, der in der heimischen Mundart nicht nur einem Bäcker das Rezept für seinen Teig gab, sondern in den Vorstrophen noch dazu einen Preußen verspottete, der mit dem Bairischen nicht zurechtkam. [...] Mein kleiner Hörerkreis begann sofort, das Lied mitzusingen und nach dem Gehör eine zweite und dritte Stimme dazuzugeben. Unter diesen Hörern und Sängern befand sich natürlich der Zeisig, der mich ermunterte, weitere Lieder in dieser Art zu schreiben“, so Otto Kuen.
Die Schulklasse des Wittelsbacher Gymnasiums München mit (v.l.n.r. eingekreist) Otto Kuen, Hugo Rauschnabel und Josef Zischank
So entwickelte sich eine erste Gesangsgruppe, die zunächst nur im privaten Kreis zu hören war. Zeisig, so der Spitzname von Kuens Schulfreund Rupert Weber, war es, der das erste Vorsingen der Gruppe in die Wege leitete, wie Otto Kuen weiter berichtet: „Eines Tages hielt mir der Zeisig eine Zeitungsannonce unter die Nase: ‚Junge Künstler für Studiozwecke gesucht. Öffentliche Vortragsgelegenheit an den Samstagsnachmittagen in der Bonbonnière. Hanns Roßmann.’“ Groß waren die Hoffnungen der jungen Künstler nicht, aber versuchen wollte man es schon der Gaudi wegen. Mit Karl und Josef Zischank war die Gruppe komplett, nur ein Name fehlte noch. „In meiner etwas versponnen Über-Eck-Denkweise war ich auf den Namen Zwischendeck gekommen; ich begründete ihn mit dem Hinweis, wir seien Passagiere, die zwar kein Geld hätten, aber trotzdem mitführen. Diese heute etwas blöd klingende Begründung erinnerte immerhin ein bißchen an Bertolt Brecht, dessen ‚Dreigroschenoper’ gerade in München Triumphe feierte, und war ganz im Stil der Zeit. Wir gingen also in die Bonbonnière, ein Café-Kabarett [...]. Hanns Roßmann [...] begrüßte uns freundlich und teilte uns unsere Auftrittszeit mit, denn wir waren durchaus nicht die einzigen, die sich hier der Kritik der Öffentlichkeit unterziehen wollten. Etwa ein Dutzend anderer Solisten oder Gruppen warteten ebenfalls, darunter schlanke Salondamen, die sinnliche oder morbide Chansons zu bringen gedachten. ‚Die werden schauen, wenn wir mit dem ‚Loabetoag’ daherkommen’, meinten wir etwas bänglich, aber dann betraten wir das Podium, ich setzte mich ans Klavier und los ging’s. Außer dem Loabetoag hatten wir noch eine Übersetzung des amerikanischen ‚When it’s Springtime in the Rockies’ ins Bairische (‚Wann der Früahling kimmt nach Schliersee’) sowie einige mehr oder minder satirische Chansons, die zum größten Teil hochdeutsch waren. Und nun geschah es zu unserer Überraschung, daß uns [...] das Publikum, das zum Teil aus Mitbewerbern bestand, neidlos bejubelte“, schreibt Otto Kuen in seiner Autobiographie.
Die Drehorgel in ihrer frühesten Besetzung – und noch ohne die später übliche Drehorgel-Tracht.
Im Mai 1932 war dem Ensemble also ein erster Durchbruch gelungen, der auch die Vertreter der Presse tief beeindruckte: „Vier bunte Fahrten schon hat die Bonbonniere unternommen; die Fracht war gering, denn das bescheidene Pflänzlein Talent ist rar. Aber diesmal hatte der Käpten ein ganzes ‚Zwischendeck’ voll junger Leute gefunden und fuhr mit einer guten Fracht von Hoffnungen heim, denn die Zwischendeckleute hatten die helle Flagge des gut bayerischen Humors am Bug gehißt. Und unter dieser Flagge werden sie auch auf der Kleinkunstbühne landen und sicher vor Anker gehen können.“ Auch Hanns Roßmann war von der Aufführung des Zwischendecks begeistert und bot sich an, der Gruppe mit Ratschlägen zur Bühnenwirkung und zum Vortrag zur Seite zu stehen, wie Otto Kuen berichtet: „So kamen wir also in gewissen Abständen zu ihm, und in diesen wenigen Stunden habe ich das meiste gelernt, was mir eine kabarettistische Laufbahn ermöglichte. Eines Tages sagte dann Roßmann zu uns: ‚Jetzt könnt ihr genug, daß ihr euch einmal im Simpl zeigen könnt.’ [...] So gingen wir in die Nachtvorstellung des Simpl, sahen noch vorher die kleine, kesse Poldi Lenz mit ihren frechen Chansons, zwängten uns dann auf das enge Podium und sangen in die Rauchschwaden, die das Publikum verhüllten.“
Der Beifall der Zuschauer war ihnen sicher, aber der Erfolg brachte sie auch in eine gewisse Bredouille, stellte sich doch nun die Frage, was Vorrang haben sollte – die Kabarettkarriere oder das Studium? „Meine drei Sänger waren alle Halbwaisen, sie hatten keinen Vater mehr, und ihre Mütter mußten mit jedem Pfennig rechnen. Die beiden Zischanks erklärten mir, ihr Onkel, der ihr Studium zum größten Teil finanziere, habe ihnen die Mitwirkung an diesem Allotria, das sie vom Medizinstudium ablenke, strikt untersagt. Der Zeisig jedoch meinte, da er sowieso als Germanist auch Theaterwissenschaft studiere, sei das durchaus auf seiner Linie“, erklärt Otto Kuen die diffizile Lage. Er selbst versprach seinen Eltern, das Examen – er studierte Englisch und Französisch – wie geplant nach dem achten Semester zu machen und vorher noch ein Vierteljahr nach Frankreich zu gehen, um die Sprachkenntnisse zu verbessern.
Damit war die Frage fürs Erste geklärt und wurde erst ein Jahr später wieder akut, als Otto Kuen und Rupert Weber ein neues Ensemble formten und sogleich an die Anfangserfolge anknüpfen konnten. „Nach dem Ausscheiden der beiden Zischanks suchten der Zeisig und ich in unserem Bekanntenkreis nach anderen Sängern. In unserer ehemaligen Klasse hatten wir einen blonden Tenor, Hugo Rauschnabel, der jetzt Elektrotechnik studierte [...]. Er war gern bereit, [...] mitzumachen. Der vierte Mann stammte ebenfalls aus dem Wittelsbacher Gymnasium war allerdings zwei Jahre jünger und hieß Adolf Sotier. [...] Vorläufig übten wir nur. Die Zeiten, da jeder irgendetwas ‚auf Verdacht’ gesungen hatte, waren vorbei. Auf Roßmanns Rat schrieb ich jede Stimme genau aus. Da ich vom dreistimmigen Satz wenig Ahnung hatte und höchstens die Befürchtung hegte, er könne nach Männergesangsverein oder Liedertafel klingen, entwickelte ich eine eigene Satztechnik, bei der die Hauptmelodie bei der Mittelstimme [...] lag und von Adolf Sotier gesungen wurde. Dazu gab es eine ‚Drübermelodie’, die dem Tenor Hugo Rauschnabel zufiel, und eine ‚Druntermelodie’, die der Zeisig als Baß übernahm“, beschreibt Otto Kuen die Arbeitsweise der Gruppe.
Die Neubesetzung der Drehorgel – v.l.n.r.: Hugo Rauschnabel, Otto Kuen, Adolf Sotier und Rupert Weber.
Nach einer Phase des Probierens und Studierens, drängte Adolf Sotier darauf, wieder öffentliche Auftritte zu wagen. Er bat die Schwiegermutter des Humoristen Willy Reichert, die er über seinen Vater kannte, um Vermittlung und erreichte so ein Vorsingen bei Dr. Heinrich Cassimir, der beim Reichssender München für die Abteilung Unterhaltung verantwortlich war. Von der Gruppe und ihrem Vortrag war Dr. Cassimir sichtlich beeindruckt, lediglich der Name des Ensembles gefiel ihm nicht. Der Gruppenname sollte schließlich etwas mit dem zu tun haben, was das Ensemble machte. In einem Weinlokal „destillierten wir allmählich den Namen ‚Weißblaue Drehorgel’ heraus“, so Otto Kuen, und dem Rundfunkdebüt am 30. November 1933 stand nichts mehr im Wege. In der Presse wurden die vier von der Weißblauen Drehorgel nach diesem Auftritt durchweg gelobt: „Sie haben zwar bewährte Vorbilder, erfreuen aber durch die Frische der Empfindung, den unbekümmerten Elan der Jugend, melodiöse Erfindungsgabe. Man würde sie gerne wieder einmal hören.“
Diesem Wunsch entsprach der Sender München gerne, wie Otto Kuen in seiner Autobiographie darlegt: „Von diesem Tag an wurden wir regelmäßig zu Sendungen geholt; Cassimir war ein großer Anreger, er sagte mir in ein paar Worten, was er wollte oder was er sich zu einem bestimmten Thema vorstelle, so daß ich nach seinen Angaben bald ein Lied nach dem anderen schrieb.“ Aber nicht nur der Rundfunk verpflichte die Weißblaue Drehorgel nun regelmäßig, auch die Auftrittsanfragen häuften sich. Als sie für den Fasching 1934 ins Münchner Studentenhaus verpflichtet wurden, war es an der Zeit, sich über eine Auftrittskleidung Gedanken zu machen. Adolf Sotier kam schließlich auf die Idee mit dem weißblauen Steppjanker zu schwarzer Smokinghose und weißem Hemd und bastelte passend dazu eine Drehorgel, an der er bei jedem Klaviereinsatz zu kurbeln begann. „‚Die weißblaue Drehorgel’ [...] erweckte mit scharfgewürzten Parodien stürmisches Lachen“, konnte man über den Studentenhaus-Ball 1934 in der Presse lesen. Damit war die Frage nach der Zukunft des Ensembles wieder akut und Otto Kuen bat seinen Vater um drei Jahre. Wenn er sich in dieser Zeit nicht mit der Drehorgel durchsetze, würde er den Schuldienst antreten.
Die Gruppe hatte indessen ein weiteres Problem zu bewältigen, wie Otto Kuen niederschrieb: „Mein Freund Rupert Weber, der Zeisig, hatte Schwierigkeiten anderer Art. Er hatte sich an der Universität mit linksextremistischen Gruppen eingelassen und befürchtete nun zu Recht, daß ihm die neuen Machthaber das ankreiden würden. [...] Er tat nun alles, um sich zu tarnen. Als ich einmal in seiner Wohnung war, warf er zornig das Parteiabzeichen der NSDAP auf den Tisch und sagte: ‚Schau, so weit ist es mit mir gekommen! Aber kann man eine alte Frau verhungern lassen?’ Das war aber nicht genug. Völlige Sicherheit gab es nur an einem Platz, wenn man nicht emigrieren wollte: in der neuorganisierten deutschen Wehrmacht. So verpflichtete er sich auf zwei Jahre. Das bedeutete aber, daß er bei der Weißblauen Drehorgel nur noch ganz selten mitmachen konnte; er schlug mir als Ersatzmann seinen künftigen Schwager Dr. Walter Meyer vor [...] und von nun an sangen die beiden die Baßpartie abwechselnd.“
Im Senderaum I des Münchner Funkhauses, am Mikrophon die Weißblaue Drehorgel, v.l.n.r.: Rupert Weber, Hugo Rauschnabel und Adolf Sotier.
Nach den Erfolgen im Münchner Fasching wurde Otto Kuen von Hans Löscher angesprochen, der ihm eine durchaus lohnenswerte Idee näherbrachte: In der Schwabinger Kneipe „Blüte“ plante Löscher, Abende ausschließlich mit Künstlern zu veranstalten, die dem Publikum sonst vorwiegend nur vom Rundfunk bekannt waren. Elise Aulinger, Lilli Preisig, Dominik Löscher – der Vater des Veranstalters –, Heinrich Hauser und die Weißblaue Drehorgel waren neben anderen mit von der Partie, als sich in der Bunten Bühne München im März 1934 erstmals der Vorhang hob. Bei dieser Gelegenheit lernte die Drehorgel einen weiteren, bedeutenden Rundfunkmann kennen, der sich als Autor von Sketchen einen Namen gemacht hatte: Carl Borro Schwerla. „Als uns am Schluß der Vorstellung ein junges Ehepaar ansprach und uns einlud, den angerissenen Abend bei ihm weiterzufeiern, sagten wir erfreut zu, als wir erfuhren, daß es Schwerla hieß. [...] Wir waren eine Zeitlang fast täglich bei ihnen, sie hatten einen freien Dachraum, in dem ein Klavier stand – eine ideale Gelegenheit für Proben. [...] Schwerla schrieb damals sehr viel für den Rundfunk, und oft ergab sich dabei auch Gelegenheit, darin unsere Lieder unterzubringen. Deshalb ernannten wir ihn zur Ehrenjungfrau der Drehorgel, zur Jungfrau h.c., wie wir in einem altertümlich geschriebenen Diplom erklärten, ‚in Ermangelung einer veritablen Jungfraw.’“
Mit den neuen Machthabern kam die Weißblaue Drehorgel nur selten in Konflikt. Zum einen gingen sie bereitwillig für beschämend geringe Gagen auf KdF-Tourneen, zum anderen galten sie „als ‚dem Blut und Boden verhaftet’, als ‚BluBo’, wie es im Rundfunkjargon hieß – wobei es den Herren mit der Parteibrille gänzlich entging, daß unsere Musik mit Volksmusik nicht das geringste zu tun hatte und unsere ‚Bodenständigkeit’ sich auf die Stadt München beschränkte; daß unsere Texte zufällig bairisch waren, änderte ja nichts an der Tatsache, daß es sich bei unseren Liedern im Grunde um Chansons handelte. Aber dieser Irrtum kam uns zugute. Daß wir uns weiß-blau nannten, erregte wohl an manchen Orten Anstoß, denn die bayrischen Farben waren ja offiziell abgeschafft, und wir waren die einzigen, die sie noch fröhlich durch die Lande trugen; in Aschaffenburg durften wir sogar allein wegen unseres Namens nicht auftreten“, so Otto Kuen.
In der großen Messehalle Köln am 16. Februar 1935, im Hintergrund Heli Finkenzeller als Münchner Kindl.
Nach fast einem halben Jahr an der Bunten Bühne und den nach wie vor regelmäßigen Rundfunkauftritten, begann das Jahr 1935 mit einigen erstaunlichen Entwicklungen für die Drehorgel. Erstmals seit ihrer Gründung wurden sie für ein Gastspiel außerhalb Bayerns verpflichtet: „Es war wieder einmal Faschingszeit, und wir waren ziemlich ausgebucht. Da ließ mich der Rundfunk wissen, der Herr Verkehrsminister Esser habe den gloriosen Einfall gehabt, die bekanntesten Humoristen der beiden Hauptkarnevalsstädte München und Köln für einen Abend auszutauschen, und da sei natürlich auch an uns gedacht. Ich winkte ab: Erstens würden die Kölner kein Wort von unseren Liedern verstehen, und dann hätten wir während dieser ganzen Zeit Verpflichtungen in München. Ich glaubte die Angelegenheit damit erledigt, da schickte mir der Intendant Dr. Habersbrunner einen Wagen vors Haus, der mich zu ihm brachte, und erklärte mir, man könne dem Minister diesen Wunsch nicht abschlagen; übrigens sei es schon mehr ein Befehl. Ich sprach von meinen Münchner Verpflichtungen. Nun, das Ganze sei in einem Tag vorbei, und für den fraglichen Abend werde dem betreffenden Veranstalter ein ‚Ersatz’ gestellt. Übrigens wolle der Herr Minister noch vorher die Lieder hören, die wir in Köln zu bringen gedächten, und damit er sie bequem hören könne, sollten wir sie heute abend im Rundfunk singen, das Programm werde kurzfristig darauf umgestellt. Wir beugten uns also der höheren Gewalt [...] und stiegen einige Tage später nachts nach einer Faschingsveranstaltung im Schwabinger Bräu in den D-Zug nach Köln. [...] Die andern Münchner Mitwirkenden, unter denen sich Heli Finkenzeller als Münchner Kindl, Weißferdl und natürlich die Prinzengarde unter Poppi Eglinger befanden, waren schon vor uns nach Köln gefahren. Wir trafen den Zitherhumoristen Hans Denk, der todunglücklich herumirrte, da er sich nur schwer verständlich machen konnte und seiner Meinung nach viel zuviel für eine Rasur bezahlt hatte; er stieß in regelmäßigen Abständen den Spruch des Götz aus. Obwohl die Kritik danach von ‚großem, warmem Erfolg’ sprach, zweifelten wir keinen Augenblick daran, daß wir hier fehl am Platz waren.“
Die zweite Überraschung, die die Weißblaue Drehorgel 1935 erleben durfte, war der Vertrag mit der Deutschen Grammophongesellschaft über vier Platten, die am 18. April in Berlin aufgenommen wurden. Nur auf ihnen ist der Originalklang der Gruppe bis heute erhalten. Zwar war die Drehorgel zwischenzeitlich auch für eine Filmaufnahme engagiert, aber letztlich hatte man den obskuren Auftrag abgelehnt, wie wiederum Dr. Kuen erzählt: „Einmal holte man uns nach Geiselgasteig zu einer ebenso sonderbaren wie für diese Zeit charakteristischen Filmaufnahme. Es ging um den französischen Spielfilm ‚Varieté’, der synchronisiert werden sollte. Nun kam in einer kurzen Szene dort ein Gesangsquartett vor, für das wir – nicht etwa den Text, sondern das Bild synchronisieren sollten. Begründung: diese Sänger sähen so unverschämt jüdisch aus, daß man sie dem deutschen Publikum nicht zumuten könne; dafür sollten wir mit unseren schönen arischen Köpfen im Playbackverfahren die Mundstellung der Gruppe reproduzieren. Ich lehnte natürlich unter einem Vorwand ab.“
Von München aus, wo die Gruppe weiterhin im Rundfunk zu hören war, brach das Ensemble zu weiteren Tourneen auf, die sie bisweilen bis nach Thüringen und Sachsen führten, aber in der Regel doch auf Bayern beschränkt blieben. Dabei musste aushilfsweise auf andere Sänger zurückgegriffen werden, da die eigentlichen Mitglieder mehr und mehr ihrer Ausbildung und den Berufen nachgehen wollten. Schon im März 1935 war Hans Andre kurzzeitig für Hugo Rauschnabel eingesprungen, als dieser sein Examen schrieb. Ab Ende 1935 wurde dieser dann wohl dauerhaft durch Fritz Schmid ersetzt, während für Walter Meyer Anfang 1936 Hermann Pössinger zum Ensemble stieß. Über die komplette Umbildung der Gruppe Mitte 1936 soll nun wieder Otto Kuen selbst berichten: „Ich mußte also damit rechnen, daß meine Sänger nicht mehr zur Verfügung stünden. Hugo Rauschnabel, den blonden Tenor, trieb es zu Siemens nach Berlin. [...] Adolf Sotier, der bis jetzt nie gefehlt hatte, mußte nun ernstlich an seine Prüfungen und seinen künftigen Beruf als Arzt denken. Walter Meyer war schon seit einiger Zeit in Kliniken tätig, die ihm keine freie Zeit mehr ließen. Rupert Weber, der Zeisig, hatte mittlerweile seine zwei Jahre Wehrdienst hinter sich und ging zu meinem Erstaunen an die NS-Oberschule in Feldafing. Auf mein Befragen erklärte er mir, seine Ansichten über die Nazis habe er keineswegs geändert, aber da ihnen mit Gewalt doch nicht beizukommen sei, betrachte er als einzigen gangbaren Weg eine Aushöhlung von innen. Er habe an seiner neuen Arbeitsstätte schon einen kleinen Kreis von Gleichgesinnten getroffen. Ich hörte mir das mit einiger Besorgtheit an, glaubte wohl an seinen guten Willen, aber fürchtete gleichzeitig um ihn. Wenn ich auch als Baß noch vorläufig Hermann Pössinger hatte, so war doch das Ganze in Frage gestellt, und ich überlegte, ob ich ein neues Ensemble zusammenstellen oder als freier Schriftsteller und Komponist am Rundfunk weiterarbeiten sollte. An eine Rückkehr zur Schule dachte ich nicht. [...] Zu diesem Zeitpunkt trat Hermann Ebbinghaus wieder an mich heran [...]. Er machte mir den Vorschlag, ein abendfüllendes Programm zusammenzustellen, eine Art ‚tönenden Bilderbogen’, in dessen Mittelpunkt die Weißblaue Drehorgel mit ihren Liedern und Chansons stehen sollte. Er wolle das Manuskript schreiben, ich solle die musikalische Leitung übernehmen und natürlich die Texte für die Drehorgel einsetzen oder neu schreiben. Ich zögerte etwas und erzählte ihm von meinen Besetzungsschwierigkeiten. Er meinte, gerade das sei der richtige Anlaß für einen Neubeginn, und schließlich sagte ich zu.
Die Weißblaue Drehorgel nach der Neubesetzung, v.l.n.r.: Otto Kuen, Siegfried Kühnel, Hermann Pössinger und René Tiedemann.
Auf der Suche nach einem Tenor geriet ich an den Maler Siegfried Kühnel. [...] Anfangs hatten wir keine große Freude aneinander. Als er sich bei mir vorstellte, stand er groß, schwarz, mit wehendem Mantel wie ein Piratenschiff vor mir und grüßte mit ‚Heil Hitler!’ – Auweh, dachte ich, ein Nazi; der wird nicht alt bei mir. Später erzählte er mir, seine Freundin habe ihm eingeschärft wenn er zu mir, einem Rundfunkmann, also bestimmt einem Nazi komme, müsse er mit dem ‚deutschen Gruß’ grüßen, sonst werde er meine Schwelle gar nicht überschreiten. Als sich dieser Irrtum aufklärte, lachten wir beide nicht wenig darüber, daß jeder den andern für einen Nazi, und wahrscheinlich auch für einen Idioten gehalten hatte. Denn anfangs hatte ich schwere Sorgen mit ihm, da ich ihm das Bairische fast wie eine Fremdsprache beibringen mußte. Singen konnte er, er hatte von seiner Mutter her eine gute Ausbildung; [...] deshalb ging er zuerst fast widerwillig an die Arbeit an dem ganz anders gearteten Kabarettgesang, fand ihn wohl etwas unter seiner Würde, und ich mußte ihn dauernd daran erinnern, daß er die beiden andern nicht an die Wand sang. Es hing an einem Haar, und wir hätten uns wieder getrennt. Als wir aber die ‚Giesinger Mond-Serenade’ einstudierten, geschah plötzlich das Wunder, daß er zu mir und meiner Musik Zuneigung faßte, und von nun an ging alles beinahe reibungslos. [...] Als neuer Cantus firmus trat zu uns Friedrich René Tiedemann, den wir nur ‚Bürschi’ nannten; er dilettierte in allen möglichen Berufen, auch im Dichten und Komponieren, obwohl seine musikalische Ausbildung noch weit fragmentarischer war als die meine (was etwas heißen will), daneben verkaufte er Füllfederhalter, war auch zeitweise in der Universitätsschreibwarenhandlung beschäftigt. [...] Immerhin gelang ihm später mit dem Lied ‚Der Junge an der Reling’, das Lale Andersen sang, ein recht schöner Erfolg. Es wurde vereinbart, daß diese neue Besetzung schrittweise die alte ablösen sollte, zuerst außerhalb Münchens, während sich diese noch vorläufig die Rundfunkengagements vorbehielt, solange es ihre Zeit erlaubte.“
„Zarrts mit Gwalt o’!“ – Bei den Isarschleppern, v.l.n.r.: Otto Kuen, Hermann Pössinger, Friedrich Tiedemann und Siegfried Kühnel.
Obwohl die Umbesetzung einen gelungen Neubeginn versprach, wollte sich der Erfolg der „Isarschlepper“ – wie Hermann Ebbinghaus sein Programm betitelt hatte – nicht so recht einstellen. Die Premiere im Münchner Volkstheater fand in der Presse ein geteiltes Echo. Die anschließenden Gastspiele unter anderem in Darmstadt, Nürnberg, Frankfurt am Main und Stuttgart wurden freundlich aufgenommen, erzielten aber nie die erhoffte Wirkung. Nach einem regelrecht katastrophalen Gastspiel in Magdeburg löste sich das Ensemble auf und die Weißblaue Drehorgel ging fortan wieder als solche auf Auftrittsreise – wenn auch erst nach einer nochmaligen Umbesetzung, wie Otto Kuen schreibt: „Hermann Pössinger mußte nun auch ausscheiden. Nach einiger Zeit gewann ich dafür als Baß Axel Fuß, der eine schöne Stimme hatte, allerdings sonst nicht ganz in unseren Stil paßte; Kühnel vertrug sich schlecht mit ihm, und wir hatten ihn sogar im Verdacht, daß er ein überzeugter Nazi sei. Trotzdem sang er bis zum Ende der Weißblauen Drehorgel mit uns.“
Die beiden Einakter „Der Jahrmarkt des Teufels“ und „Die bayrische Musteralm“, die Otto Kuen in der Zwischenzeit für die Gruppe verfasst hatte, wurden nie aufgeführt, weil die Konzertagenturen nicht mehr an eine Realisierbarkeit glaubten, zumal das Ensemble neben der Drehorgel als Herzstück aus weiteren Darstellern und Künstlern bestehen sollte. Erst der Fernsehsender Paul Nipkow eröffnete für die Gruppe noch einmal ein ganz neues Betätigungsfeld, wie wiederum Otto Kuen erzählt: „Wir waren schon mehrmals zu Funkausstellungen (Passau, Frankfurt am Main, Berlin) eingeladen worden, um dort auf der Bühne einige unserer Programmnummern zu spielen, die man dann gleichzeitig in allen in der Halle aufgestellten Fernsehapparaten sehen konnte. Natürlich war ein kleiner Schwindel dabei, denn diese waren mit Kabel mit dem Sendeapparat verbunden. Wir waren bis zur Unkenntlichkeit geschminkt, und die Scheinwerfer waren so heiß, daß uns nach fünf Minuten die bunte Soße vom Gesicht zu tropfen begann. Aber viel länger brauchten wir ja sowieso nicht auf der Bühne zu sein.
Das eigentliche, richtige Fernsehen aber sah anders aus. Es gab nur einen einzigen Fernsehsender, er hieß nach dem Erfinder der gleichnamigen Scheibe Paul Nipkow und befand sich in Berlin. Dort traten wir einmal an allen vier ortsansässigen Sendern auf: dem Reichssender Berlin, dem Deutschlandsender, dem Kurzwellensender und dem Fernsehsender Paul Nipkow. Die Aufnahmetechnik war hier etwas irritierend. Man betrat einen völlig dunklen Raum; zur Orientierung hatte man nur einen kleinen Lichtpunkt an der Kamera und einige Fußleisten am Boden. Man sah bei einem Dialog also nicht einmal das Gesicht seines Gesprächspartners, und eine Ortsveränderung von auch nur wenigen Schritten auf der Bühne war nur unter größten Vorsichtsmaßnahmen durchführbar. Ich bat sofort, mich mit meinem Klavier aus dem Bild zu nehmen, da ich fürchtete, bei einem plötzlichen Einsatz die verkehrten Tasten zu greifen. Darauf setzte man mich in einen durch eine Stoffwand abgetrennten beleuchteten Raum, setzte mir Kopfhörer auf und stellte mir einen Fernsehempfänger aufs Klavier, so daß ich Bild und Ton verfolgen konnte.“ Es folgten zahlreiche Auftritte die zum Teil weit über die bayerischen Grenzen hinausreichten – so war das Ensemble in Salzburg, Stuttgart, Hamburg und Königsberg zu hören –, doch Otto Kuen sah langfristig keine Zukunft mehr für die Drehorgel, wie er selbst erzählt: „Sollte ich ewig drehorgeln? Ich hatte an die hundert Lieder für das Ensemble geschrieben und lief Gefahr, mich von nun an selbst zu kopieren, eine ‚Masche’ daraus zu machen; das widerstrebte mir. [...] Der zweite Grund meiner Besorgnis war der politische Druck, den ich am Rundfunk ständig wachsen spürte. Die Partei hatte allmählich doch gemerkt, daß wir nicht ‚geschlossen hinter unserm Führer’ standen; [...] von einzelnen Stellen wurde uns nahegelegt, doch endlich auch etwas gegen die Juden zu bringen und mit politischer Satire die Arbeit der Partei zu unterstützen. Der mir wohlgesinnte und gewiß nicht nazifreundliche Dr. Cassimir riet mir, die Weißblaue Drehorgel in Münchner Drehorgel umzubenennen, um wenigstens das Ärgernis der bayrischen Fahne aus dem Namen zu entfernen. [...] Da beschloß ich, die Weißblaue Drehorgel aufzulösen. Als ich das meinen Sängern mitteilte, waren sie zuerst wie vor den Kopf geschlagen. Sie beschworen mich, wenn ich schon selbst nicht mehr auftreten wolle, solle ich ihnen doch weiterhin das Repertoire schreiben, die Nummern einstudieren, sie würden sich dann einen Pianisten engagieren. Ich gab ihnen nur vage Zusicherungen, und nach einiger Zeit erkannten sie selbst, daß dieser Weg nicht gangbar war. So beschlossen wir, von Januar 1939 ab keine neuen Engagements mehr anzunehmen. Tatsächlich traten wir im März dann zum letzten Mal auf – zufällig wieder bei einer Absolviafeier des Wittelsbacher Gymnasiums, woher ich meinen Ausgang genommen hatte.“
Und da stenga ma und da singa ma in da Nacht, in da Nacht.
Entschuldigen die Herrschaften, dass ma jetzad no da steh,
wo’s so spat is, dass ma de Ladn scho zuamacht, zuamacht.
Der Mond schaugt uns zua, der Mond hört uns zua,
aber moanas, dass uns der was aba schmeißat in Huat, der Bazi?
Und drum bitten wir die verehrte Nachbarschaft:
Hebn’s a Fünfler raus und na lassen’s aus, san’s so guat.
„Als ich 1948 aus der Kriegsgefangenschaft zurückkehrte, waren alle ehemaligen Mitarbeiter teils tot, teils in alle Winde verstreut. Aber in den Ruinen hockten schon wieder ein paar lustige Vögel, die fröhlich in die Welt hineinzwitscherten“, so Otto Kuen. Die Isarspatzen – Klaus Netzle, Fritz Westermeier, Franz Meßner und seit 1952 Erika Blumberger – sangen ab 1948 das Repertoire der Weißblauen Drehorgel auch in der bereits angesprochenen Rundfunksendung, die den alten Gruppennamen wiederbelebte. Als die beliebte Sendereihe des Bayerischen Rundfunks in den 1960er Jahren auslief, war es ein altes Drehorgel-Lied, das den Schlussakkord bildete:
an alle Register draht hamma;
Und wann enk des gfoin hat, na führ ma’s in Schuid,
mir kemma scho wieder zamma!
As Leben is oft granti, des is halt da Lauf,
mi’n Jammern wern d’Sorgn bloß gressa,
aber na spuit dir de Weißblaue Drehorgel auf,
na werd’s da scho wieda bessa!
Der Text basiert auf meinem Artikel für die Zeitschrift „Fox auf 78“ (Nr. 26, 2011). Bei den Recherchen dazu durfte ich auf die Unterstützung von Sammlerkollegen, Historikern, Zeitzeugen und Angehörigen der Weißblauen Drehorgel bauen. Bedanken möchte ich mich an dieser Stelle ganz herzlich bei Paulina Andre, Prof. Dr. Klaus Krüger, Karsten Lehl, Franz Meßner, Klaus Netzle, Henner Pfau, Brigitte und Stefan Sotier, Luise Zischank, Wolfgang Zischank sowie dem Archiv des Bayerischen Rundfunks (namentlich Frau Sabine Rittner). Hervorgehoben sei die Familie Kuen – insbesondere Peter Paul und Andreas Kuen – sowie Werner Wolfsfellner, die mir ganz unkompliziert und offen die Autobiographie „Zwischen den Zeilen der Zeit“ von Dr. Otto Kuen zur Verfügung gestellt haben. Sie wird in absehbarer Zeit im Werner-Wolfsfellner-Medizinverlag erscheinen und sei schon vorab allen Interessierten empfohlen. Ohne die geistreichen, humorigen, liebevollen Aufzeichnungen von Dr. Otto Kuen hätte dieser Artikel ganz anders aussehen müssen – ihm gilt mein herzlichster Dank.
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