Kurt Gerron

Kurt Gerron
(* 11. Mai 1897 in Berlin; † 15. November 1944 in Auschwitz)

Er war nett zu mir, und das macht mir Angst. Er hat mich nicht angeschrien, was normal gewesen wäre, sondern war höflich. Ein Tonfall, als ob er mich siezen würde. Er hat mich nicht gesiezt, das wäre ihm nicht in den Sinn gekommen, aber er hat meinen Namen gewusst.
„Du, Gerron“, hat er zu mir gesagt und nicht „Du, Jud“.
Es ist gefährlich, wenn ein Mann wie Rahm deinen Namen kennt.
„Du Gerron“, hat er gesagt, „ich habe einen Auftrag für dich. Du wirst einen Film für mich drehen.“

Mit diesen Zeilen beginnt der 2011 erschienene Roman „Gerron“ von Charles Lewinsky. Auf über 500 Seiten versucht der Autor auf lesenswerte Art und Weise, der Hauptfigur näher zu kommen, ihr Handeln und Schicksal verständlich und nachfühlbar zu machen. Und doch kann dies nicht gelingen: Das Leben eines Kurt Gerron lässt sich nicht zwischen zwei Buchdeckel zwängen. Psychologisch erfassen lässt es sich schon gar nicht.



Kurt Gerson (sic!) wird am 11. Mai 1897 in Berlin als einziges Kind eines jüdischen Ehepaares geboren. Der Vater betreibt ein kleines Modegeschäft und ist wohl Schneidermeister, die Lebensumstände lassen sich als gutbürgerlich umschreiben. Der Sohn des Hauses beendet seine schulische Laufbahn 1914 mit dem Abitur und hat den Wunsch, Arzt zu werden. Als Soldat eingezogen kann er sein Studium nach einer schweren Verwundung tatsächlich noch zu Kriegszeiten beginnen und abschließen, schnellstmöglich wird er wieder zu Lazarettdiensten an die Front geschickt. Was er dort an Schmerz, Menschenverachtung und Leid sieht und erlebt, macht es ihm später unmöglich, dem Beruf auch zu Friedenszeiten nachzugehen.


Kurt Gerron als junger Soldat
Abbildung von Grammophonteam

„Eines Tages […] fasste ich den plötzlichen Entschluss, zur Bühne zu gehen, und wurde so ohne irgendwelche besonderen Zufälle Schauspieler“, schreibt er später über seine Entscheidung. Erste Bühnenauftritte im Jahr 1919 haben wiederum das Debüt auf der Leinwand 1920 zur Folge, wo er fortan oft – meist in Kleinrollen und eher in Filmen, die man heute neudeutsch als B-Movies bezeichnen würde – zu erleben ist. 1921 engagiert ihn Trude Hesterberg für das Eröffnungsprogramm ihrer „Wilden Bühnen“, wo er laut Programmzettel mit drei Chansons – erstmals unter dem Namen Kurt Gerron – auftritt. Die Zeitungskritiken dazu lesen sich überschwänglich, Gerron kann sich in der Kabarettzunft auch aufgrund seines schwergewichtigen Äußeren etablieren.

Er bleibt im Ensemble der „Wilden Bühne“, ist aber auch auf anderen Bühnen etwa in Rosa Valettis Kabarett „Größenwahn“ präsent. Mit der Saison 1922/23 folgt der Ruf ans „Theater am Kurfürstendamm“, Gastspiele in Wien schließen sich an. Ganz nebenbei stellt sich durch die Heirat mit der Arzthelferin Olga Meyer auch das private Glück ein. Als Kabarettist gehört Gerron in Berlin zur ersten Garde, treibt nebenbei seine Karriere als Schauspieler voran – allein 1927 spielt er in 25 Filmen! – und kann auch als Charakterdarsteller Fuß fassen: Im Februar 1926 spielt er am Deutschen Theater in Bertolt Brechts „Baal“, im Oktober 1927 ist er in der Uraufführung von Carl Zuckmayers „Schinderhannes“ am Lessingtheater zu erleben.


Kurt Gerron (rechts außen) in der „Dreigroschenoper“, auf dem Galgen Erich Ponto als Maceath.

Zum grandiosen Erfolg gerät die Premiere der „Dreigroschenoper“ am 31. August 1928 aus der Feder von Bertolt Brecht mit Musik von Kurt Weill. Kurt Gerron spielt den verruchten Polizeichef Tiger Brown – und singt den bis heute legendären Song von „Mackie Messer“:
„Und der Haifisch, der hat Zähne,
und die trägt er im Gesicht.
Und Maceath, der hat ein Messer,
doch das Messer sieht man nicht.“

Fast acht Monate mimt Gerron diese seine Glanzrolle, ehe er sich weiteren Theaterprojekten zuwendet und der Tonfilm neuen Ruhm verspricht: Der Film „Liebe im Ring“ mit einem eher holprig agierenden, aber liebenswerten Max Schmeling in der Hauptrolle ist Gerrons Debüt im neuen Medium. Der Streifen ist ursprünglich als Stummfilm geplant, wird aber von der technischen Entwicklung überholt und teilweise nachvertont. Nachdem er bereits für Aufnahmen aus der Dreigroschenoper auf Electrola und Ultraphon in Tonstudios der Schellackvertriebe geholt wurde, folgt mit dem Film „Liebe im Ring“ ein neuerliches Plattenengagement: Gemeinsam mit Max Schmeling und Hugo Fischer-Köppe entsteht im Februar 1930 die Einspielung von „Das Herz eines Boxers“.


Mit Emil Jannings und Marlene Dietrich in „Der blaue Engel“.

Kurt Gerron bleibt trotz aller Erfolge auch im Tonfilm eher ein Mann der zweiten Reihe, aber eine Säule zum Stützen der ersten und ein Qualitätsgarant dazu. Als 1930 zwei deutsche Filmklassiker entstehen, ist Gerron an beiden beteiligt: In „Der blaue Engel“ mit Marlene Dietrich und Emil Jannings gibt er den skrupellosen Varietédirektor Kiepert, in „Die Drei von der Tankstelle“ hilft er als Rechtsanwalt Dr. Kalmus komödiantisch, die Verwicklungen zwischen den von Willy Fritsch, Lilian Harvey, Oskar Karlweis und Heinz Rühmann dargestellten Protagonisten aufzulösen. Die übrigen Filmarbeiten, an denen er als Darsteller noch mitwirken wird, erreichen diesen Kultstatus nicht mehr, beweisen aber doch immer aufs Neue Gerrons schauspielerische Fähigkeiten.



Ein Standbild aus „Die Drei von der Tankstelle“ zeigt einen Teil des namhaften Ensembles –
hier mit Gerron von links nach rechts: Lilian Harvey, Willy Fritsch, Felix Bressart,
Olga Tschechowa und Oskar Karlweis.

Der Wunsch, auch einmal Regie zu führen, erfüllt sich zunächst wieder auf einer Bühne, als Gerron Anfang 1930 für eine Kabarettrevue an die Bühne von Rudolf Nelson verpflichtet wird. Drei Stücke in Folge wird Gerron dort als Regisseur mitkonzipieren – „Der rote Faden“, „Quick“ und „Glück muss man haben“ – und dabei auch seine bedeutendsten Gesangsauftritte erleben, von denen Klassiker wie „Das Nachtgespenst“ oder „Die Großstadt-Infanterie“ zum Glück auch in Schellack gepresst werden. 1931 wird Kurt Gerron dann erstmals auch eine Regie im Tonfilm angetragen: Er zeichnet für eine Reihe von sechs Kabarettfilmen verantwortlich, die im Vorprogramm laufen und mit einem Staraufgebot gespickt sind – Siegfried Arno, Blandine Ebinger, Max Ehrlich, Paul Hörbiger, Hellmuth Krüger, Kate Kühl, Kurt Mühlhardt, Maria Ney, Eugen Rex, Willi Schaeffers und Lotte Werkmeister sind mit von der Partie, um nur einige zu nennen.

Noch während der Arbeit an diesen Kurztonfilmen folgt die Verpflichtung als Regisseur für den ersten abendfüllenden Streifen: „Meine Frau, die Hochstaplerin“. Der Film mit Käthe von Nagy, Heinz Rühmann, Fritz Grünbaum u.a. wird in Kritiken hochgelobt, auch Gerron beweise sich „als Lustspielregisseur von Format“. Das Theater muss fortan zurückstehen, der Film wird sein Hauptmetier – ob als Darsteller („Bomben auf Monte Carlo“, „Zwei in einem Auto“ u.a.) oder als Regisseur („Es wird schon wieder besser“, „Ein toller Einfall“, „Der weiße Dämon“, „Heut‘ kommt’s drauf an“).


In "Revue des Monats", April 1931
Abbildung von Grammophonteam

Angesichts der Erfolge dürfte er die politischen Entwicklungen kaum mit Sorge gesehen haben, wie neben anderen auch Heinz Rühmann in seinen Memoiren berichtet: „Er wusste damals noch nicht oder wollte es nicht wissen, wie ernst die Situation politisch war. Sonst hätte er sicher nicht so oft nach seinem ‚Stoßtrupp‘, seiner ‚Leibstandarte‘ gerufen, wenn er die Aufnahmeleitung meinte. Wenn er fragte: ‚Wo ist denn meine kleine SA?‘, wurde krampfhaft gelächelt. Einige Gesichter blieben undurchsichtig ernst.“

Mitten in den Dreharbeiten zu „Amor an der Leine“ wird Kurt Gerron von der neuen politischen Realität eingeholt. Hauptdarstellerin Magda Schneider erinnerte sich später in einer eindrucksvollen Schilderung an den tragischen Abgang des großen Darstellers und Regisseurs: Der Produktionsleiter steht auf, „geht also auf so eine Bühne und sagt: ‚Meine Damen, meine Herren, es tut mir leid, aber ich muss Ihnen etwas sagen. Wer nicht ein tadellos reiner Arier ist, der muss jetzt das Atelier verlassen. Wir haben geglaubt, es… – weil wir wussten ja, es waren viele Juden noch im Atelier, in der Statisterie und dann vor allen Dingen unser Regisseur! Ich hab‘ nur zum Gerron geschaut und der hat die Augen so runter gelassen und hab‘ gemerkt, der Mensch denkt jetzt, das ist mein Todesurteil. Das hat man so gesehen. Und dann ist er aufgestanden, hat mich erst noch angeschaut und dann hat er meinen Mann [Wolf Albach-Retty] angeschaut, weil wir waren die Hauptdarsteller des Films, und dann hat er ein paar Mal geschluckt, dann ist er aufgestanden, hat so gemacht [atmet tief aus] und ist gerade weg gegangen. Also wir sahen nur noch seinen Rücken. Und der zitterte so, dieser Rücken, das werd‘ ich nie vergessen, dieser zitternde Rücken, der hat mich verfolgt.“ Unter dem neuen Titel „Kind, ich freu‘ mich auf dein Kommen“ setzt der tadellose Erich von Neusser die Regiearbeit fort.


Kurt Gerron emigriert mit seiner Frau zunächst nach Paris, wo weitere Filme unter seiner Regie entstehen, 1934 dann nach Wien, wo er mit „Bretter, die die Welt bedeuten“, wiederum einen Film inszeniert. Dauerhafte Beschäftigung findet er aber nicht, zu viele Emigranten strömen nach Österreich. Im Sommer 1935 bricht die Familie mit Gerrons Eltern nach Den Haag auf. Papa Gerron wird er dort bei seinen väterlichen Regiearbeiten zu „Het mysterie van de Mondscheinsonate“ und „Merijentje Gijzen’s jeugd“ genannt. Der letzte Spielfilm von und mit ihm, die holländische Version eines italienischen Streifens, entsteht im Sommer 1937 in Rom. In den Niederlanden leitet er noch die Synchronisation des ersten abendfüllenden Zeichentrickfilms „Schneewittchen und die sieben Zwerge“, dann kommt Gerron in Rudolf Nelsons Kabarettensemble unter, wo er auftreten und auch Regie führen darf. Nebenbei ist er als Schauspiellehrer tätig.

1939 ist er in Willy Rosens „Kabarett der Prominenten“ an der Seite von Siegfried Arno, Szöke Szakall und Otto Wallburg zu erleben, danach wird der Krieg, wird das Dritte Reich Gerron in Holland einholen: Nach dem Einmarsch der deutschen Truppen verdingt er sich in der „Joodsche Shouwburg“ und im „Joodsch Kleinkunst Ensemble“. In Deutschland ist er zeitgleich noch ein letztes Mal in auf der Leinwand zu sehen: In dem ultrarassistischen Pseudodokumentarfilm „Der ewige Jude“ wird auch der „Filmjude Gerron“ vorgeführt. Gemeinsam mit seiner Frau wird er 1943 im Lager Westerbork interniert, anschließend nach Theresienstadt deportiert.

Dort richten die Nationalsozialisten ein Konzentrationslager für die Juden ein, deren Verschwinden von der breiten Weltöffentlichkeit bemerkt wird. Man errichtet ein Vorzeigelager, das nicht weniger grausam ist, aber etwa für Besuche des Internationalen Roten Kreuzes aufgehübscht und vorgezeigt werden kann. Und hier wird Kurt Gerron vom Lagerleiter SS-Obersturmführer Karl Rahm noch ein letztes Mal um eine Filmarbeit gebeten: Ein Dokumentarfilm soll die Welt davon überzeugen, wie gut es Juden in deutschen Lagern geht. Hinter vorgehaltener Hand geben die KZ-Insassen dem Film den Namen „Der Früher schenkt den Juden eine Stadt“. Mehr Menschenverachtung ist kaum denkbar: Gerron muss sein eigenes Schicksal und das seiner Leidensgenossen in möglichst weichen Farben zu Propagandazwecken einfangen. Noch bevor die abschließende Schnittfassung des Films erfolgt, ist das Ehepaar Gerron abtransportiert. Kurt Gerron wird am 15. November 1944 mit seiner Frau Olga im Konzentrationslager Auschwitz umgebracht.

Von der Wachmannschaft soll er bei der Deportation noch gezwungen worden sein, seinen berühmten „Kanonen-Song“ aus der Dreigroschenoper zu schmettern:
„Soldaten wohnen
auf den Kanonen
vom Kap bis Couch Behar.
Wenn es ‘mal regnete
und es begegnete
ihnen ‘ne neue Rasse,
‘ne braune oder blasse,
da machen sie vielleicht daraus ihr Beefsteak Tatar.“


Kurt Gerron mit gelbem Stern im Konzentrationslager Theresienstadt.


Aus dem Nachlass von Berthold Leimbach
Josef Westner (humoresk)


Allen Interessierten sei das Buch „verehrt – verfolgt – vergessen“ von Ulrich Liebe wärmstens empfohlen, das sich mit Schauspielern befasst, die durch das NS-Regime verfolgt wurden, und – zumindest antiquarisch – noch erhältlich sein dürfte. Grundlage für diesen Artikel war darüber hinaus der hervorragende Artikel „Ein Künstler von Gewicht – Kurt Gerron“ von Egbert Liebold (in „Fox auf 78“, Nr. 15, 1996, S.42-45) sowie der anrührende britische Dokumentarfilm „Gefangen im Paradies“ (2002). In neuerer Zeit erschienen ist die hier zitierte literarische Aufarbeitung der Biographie unter dem Titel „Gerron“ von Charles Lewinsky.

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