Mr. Meschugge

Total meschugge...


Berlin, August 1913

"Mr. Meschugge" scheint nicht mehr recht zu ziehen; es gibt schon allzu viele Kapellmeister in Berlin, die "Meschugge" sind. Unserer Zeit blieb es vorbehalten, den "Kapellmeister zu erfinden, der auf dem Podium von Konzertcafés und anderen Lokalen, in denen man sich nicht langweilen soll, die unglaublichen Verrenkungen des Körpers vorzunehmen hat und der diese Tätigkeit als seine Hauptaufgabe betrachten muss.

Einer von ihnen, der in einem Nachtlokal im Berliner Quartier latin sich auf dem Konzertpodium besonders verrückt geberdete, wurde deswegen "Mr. Meschugge" genannt; der gute Mann war darob so stolz, dass er sich diesen Namen als Ehrentitel beilegte. Er fand aber bald so viele Nachahmer, dass der Titel "Mr. Meschugge" sich zu einer Art Standesbezeichnung entwickelte. Es nutzte Herrn "Mr. Meschugge" Nr. 1 nichts, daß er sich in seinen Ankündigungen als den originalen und allein echten "Mr. Meschugge" bezeichnete. "Mr. Meschugge" ist sogar schon in die Tanzlokale gewandert; so kündigt der Berliner Lunapark an, dass sich in der Mitte seines Tanzsalons ein "garantiert meschugger Kapellmeister" mit seiner Kapelle produziere. Herr "Mr. Meschugge" allein ist jedoch bald ein überwundener Standpunkt; in Zukunft wird die ganze Kapelle "meschugge" sein müssen.
(JW)

Aber auch schon das Wort "meschugge", dass der jüdischen Sprache entstammt und eine mildere Form des (Wort) Blödsinn bezeichnet, wird schon als zu schwach empfunden, und an seine Stelle tritt dass echt deutsche Wort "Blödsinn". Ein Berliner Vergnügungs- und Nachtlokal gibt bekannt, dass in ihm eine Kapelle, genannt "Die musikalischen Blödsinnskandidaten" auftritt. Dieser "Blödsinn" wird wohl nicht so bald überboten werden. Am Ende erleben wir es gar noch, dass ein Mitglied einer solchen "Blödsinns - Kapelle" seinen Beruf ernsthaft als "musikalischer Blödsinnskandidat" angibt.

Es gibt viel Blödsinn auf der Welt; den Rekord auf diesem Gebiet hält aber unstreitig die Sphäre der großstädtischen Nacht- und Vergnügungslokale, der Berufsbezeichnung wie "Mr. Meschugge" und "Die musikalischen Blödsinnskandidaten" entsprossen sind.
Berliner Börsenzeitung, 13. August 1913


(x1)

Zonophone 17317/2054ak
Berlin, 17. März 1913


In dem Artikel von 1913 klang es ja bereits an, bei Mr. Meschugge handelte es sich um eine ganz reale Person. Doch schon während seiner Karriere verselbstständigte sich der Begriff, wurde zu einer Überordnung, einem Synonym für recht exzentrische Musiker und Künstler allgemein. Der echte, der einzige, der wahre Mister Meschugge - hieß Robert Krüger und kam aus Berlin...

c. 1906/07
(JW)
Robert Krüger
21. Januar 1882 - 22. Juni 1919
Militärmusiker, Kapellmeister, Komponist


Im Cafe Oranienburger-Tor hörte ich zum ersten Mal so etwas wie eine Jazzkapelle. Man nannte es damals eine Radaukapelle. Der Kapellmeister nannte sich "Mister Meschugge" und benahm sich wie ein Wahnsinniger. Er tat so, als könne er den Lärm nicht mehr meistern, zerbrach seinen Taktstock oder hieb mit seiner Geige plötzlich einem der Musiker über den Kopf. Schließlich riss er die große Baßgeige an sich und führte mit ihr einen grotesken Kampf auf, das Ende war immer, dass er die Stücke der zersplitterten Geige ins Publikum schleuderte, das vor Entzücken brüllte und die Trümmer zurück warf.

Ununterbrochen brachten Kellner neue Lagen Bier und Schnaps für die Kapelle. Das erhöhte die Stimmung enorm. "Meschugge" riss den Musikern die Instrumente aus den Händen, tanzte, sang, sprang plötzlich auf den Flügel und markierte einen sich kratzenden Affen, nahm dann ein großes Glas Bier, tat so, als ob dem begeisterten Publikum zuprostete und goss es dann blitzschnell einem seiner Musikanten in die Trompete... Das Publikum wälzte sich vor Lachen.


Nach er bisherigen Forschung wurde Robert Krüger in oder in der Nähe Berlins geboren. Nach einem kurzen Artikel von 1915 erlernte Krüger Musik beim Militär. Als er 1914/15 zum Krieg eingezogen wurde, stand er im Rang eines Vizefeldwebels. Dies lässt ebenfalls auf eine frühere militärische Ausbildung zu Jugendzeiten schließen.

1903 wird der Marsch "Unsere Garde, op. 75" veröffentlicht (nicht identisch mit dem bekannteren Marsch unter gleichem Namen). Komponist, Robert Krüger. Spätestens ab 1905/06 muss sich Krüger wieder in Berlin aufgehalten haben. Im Adressbuch 1907 wird als Beruf Kapellmeister und Komponist angegeben.


Seine Frau Alice (geborene Rosenhain) stammt wie er auch aus einer Familie jüdischen Glaubens. 1910 kommt das einzige Kind, Tochter Margot zur Welt.


Berlin war um und nach 1910 war sehr anglophil geprägt. Beliebt waren vor allem sogenannte "Excentric-Künstler". Es gab Excentric-Sänger, Excentric-Parodisten, Excentric-Akrobaten usw. Aber auch Excentric-Dirigenten. Diese "dirigierten" ihre Orchester meist von einer recht wilden Show begleitet. Pistolenschüsse, zerschlagene Instrumente und wildes Geschrei gehörte ebenso zum Programm wie die neueste "Ragtime Musik" aus den USA. Einer der erste dieser "Art" war Mr. Glasnek vom Kerkau - Palast.
1910




Robert Krüger arbeitete zunächst an kleineren Theatern als Kapellmeister. Hier dirigierte er Possen und musikalische Schwänke - den Urformen der Berliner Operette. Engagements vor 1910 sind z. B. für das Palasttheater, Burgstr. 24 (im Jahr 1912 abgerissen) belegt.
Palasttheater


Anscheinend fiel sein exaltierter Stil zu dirigieren auf. Wie genau aus ihm Mr. Meschugge wurde ist noch unklar. "Meschugge" war um und nach 1910 ein absolutes Modewort, die Redewendung "Bist du denn Meschugge?", in aller Munde.



Interessanterweise findet sich einer der ersten Belege für Auftritte von "Mr. Meschugge" in dem amerikanischen (Vaudeville) Fachmagazin Variety im Juni 1911:


"In dem Nachtlokal "Neue Winzer Stuben" (Neuve Winter Steuben - sic) tritt "Mr. Meschugge" als Kapellmeister des Orchesters auf. "Meschugge" bedeutet soviel wie "cracy/verrückt". Es wurden mehrere Offerten gemacht, dass "Mr. Meschugge" Amerika bereist. Amerikaner die ihn sahen, stellen ihn über (Mr.) Glasneck, den "verrückten Orchesterleiter", welcher vor kurzem einiges an Aufsehen erregte. H. B. Marinelli vertritt "Mr. Meschugge" in allen Angelegenheiten."

Bei "Neue Winzer Stuben" handelt es sich vermutlich um die "Rheinischen Winzerstuben", einem etwas skandalumwitterten Lokal in welchem Robert Krüger auch im Jahr 1913 auftrat. Interessant ist auch die Nennung seines Agenten, H. B. Marinelli. In einem Artikel von 1915 findet sich nämlich dieser Satz:

...kam ein findiger Agent, auch Ausländer, auf die Idee, ihn als Mr. Meschugge umzutaufen.

H. B. Marinelli war jedoch, auch wenn der Name anderes vermuten lässt, kein Ausländer. Es handelt sich dabei um die Theateragentur Hermann Büttner mit dem wohlklingenden Firmennamen "Marinelli"...


Die Agentur kümmerte sich jedenfalls gut um die Belange unseres Kapellmeisters Krüger. Ab 1912 war "Mr. Meschugge" in aller Munde. Auftritte nun auch in anderen Lokalen, wie z. B. dem "Café Stern".

Mr Meschugge

konzertiert nur im Café Stern
(Inhaber Ignatz Stern, Frankfurter Allee 76)
c. 1911/12

Einige Posen aus seiner "Show"
Bauchtanz * Wenn das der Petrus wüsste * Das haben die Mädchen so gerne
Ich schiess den Hirsch * Es ist alles scheinbar * Rixdorfer
In der Nacht * Behüt dich Gott * Stillgestanden
Pauline geht tanzen * Bräutigam geh raus * Zinnsoldat


Vielen Dank an www.veikkos-archiv.com diese Bilder/Reklamemarken hier für die weitere Forschung verwenden zu dürfen!


In verschiedenen Nachtcafes dirigiert ein Mann die Kapelle, der sich Kapellmeister Meschugge nennt. Womit er andeutet, er dirigiere so hinreißend komisch, daß ein für Humor empfängliches Publikum nicht aus dem Lachen heraus kommt. In der Karwoche nun verträgt die Polizei keine heiteren Weisen, so daß man in einem Kabarett, wie es mir passierte, eine Fontane - Ballade deklamiert und Schubertlieder gesungen bekommen kann.

Was tut Kapellmeister Meschugge, der Berliner unter Wilhelm II. ist? Er verwendet seine urkomische Begabung dazu, mit seiner Kapelle, unter Herzuziehen eines sakralen Glockenspiels, das - - Niederländische Dankgebet zu intonieren, bei dessen feierlichem, von Osterglockengeläut durchwebtem Schluß er sich auf einen Stuhl kniet, das Antlitz in den Händen verbirgt und, nicht etwa das Lynchgericht der empörten Zuhörer, sondern den nicht endenwollenden Beifallssturm des dankbaren Publikums über sich erhen läßt. Stil!



Es gab jedoch auch viele kritische Stimmen. Vor allem der Verband der Kapellmeister und Musikdirektoren ließ kaum ein gutes Haar an den ganzen Mr. Meschugge, Mr. Spleen, Herr Gänseklein, Mister Masseltop und wie sie nicht alle hießen. Fast schon sah man durch die Popularität dieser Künstler das kulturelle Abendland bedroht. Aber auch die Besucher und Gäste bekamen ihr Fett weg. Sinngemäß, erst durch den (schlechten) Geschmack des zahlenden Publikums konnte dieser Barbarei ja Vorschub geleistet werden...

Anfang 1913 leitete Robert Krüger als "Mr. Meschugge" das Orchester in den "Rheinischen Winzerstuben". Zusammen mit diesem entstanden im März 1913 für die Zonophon/Grammophon die wohl einzigen Schallplatten seiner Karriere.

ORCHESTER DER RHEINISCHEN WINZERSTUBEN EXCELSIOR
Dirigent: MESCHUGGE
ZONOPHONE (Grammophon)
Berlin, 17. März 1913

Matrize - Titel - Katalog Nr. - Bestell Nr.
Komponist

  • 2049½ak Der Rixdorfer (aus. Puppchen) 3­520526 / 17316
    Jean Gilbert

  • 2050ak Ein Frühlingstag im Zoo 3­520527 / 17317
    Krüger / Meschugge

  • 2051ak Puppchen, du bist mein Augenstern (aus. Puppchen) 3­520525 / 17316
    Jean Gilbert

  • 2052ak Waidmannsheil, Marsch mit Gesang, eine meschuggene Jagdszene 3­520530 / 17318
    ? Krüger?

  • 2053ak Frohsinn auf den Bergen, quietsch­vergnügtes gejudettes Gejodel 3­520529 / 17318
    Fétras

  • 2054ak Dixieland, Marsch­Twostep 3­520528 / 17317
    Haines


Der Rixdorfer
.


In den Jahren 1913 und 1914 wird es immer schwieriger sagen zu können, ob es sich bei dem Auftritt eines "Mr. Meschugge" tatsächlich um den echten, also den Kapellmeister Robert Krüger handelt. Nicht nur sein Gebahren, auch sein Äußeres wurde imitiert. So traten verschiedenste "Mr. Meschugge" in Possen und Theaterstücken auf. Nicht nur in Berlin, auch in anderen Städten standen plötzlich "verrückte" Dirigenten mit langen Haaren und wildem Gehabe auf den Bühnen. Sogar in manchen Stummfilmen hatte ein "Meschugge" seinen Auftritt - all diese hatten mit unserem Kapellmeister nichts gemeinsam.

Sicher ist, im Mai und Juni 1914 ist der echte "Mr. Meschugge" auch in Holland zu bestaunen.

Mr. Meschugge mit seinem Orchester aus Berlin * er ist ein Unikum * er ist Amüsant * er ist Exzentrisch * er ist ein Genie * er ist die größte musikalische Weltattraktion...


Danach verlieren sich die Spuren von Robert Krüger in Berlin. Im Sommer 1914 bricht der erste Weltkrieg über die Länder Europas. Möglicherweise stand Krüger seit seiner militärischen Ausbildung als Jugendlicher in Reserve der preußischen Armee.

Im Sommer 1915 rechnet einer der Kritiker mit den ausländischen Radau-Kapellen der Vorkriegszeit ab. Nicht nur erfahren wir, dass Herr Krüger bis zu 2500 Mark Monatsgage erhielt: ...er ist jetzt Bataillonskapellmeister bei einem Landsturmbataillon mit dem einfachen Namen Krüger...



Robert Krüger wurde zum Garde-Landsturm-Bataillon von Dennewitz eingezogen. Hier trug er den Rang eines Vizefeldwebel. In Baranowitschi, Weißrussland leitete er das Militärorchester.



Die Musik eines Bataillons rahmt mit ihren Vorträgen die Solis ein... Nur der Dirigent wippt ein wenig in den Knien beim Taktstockführen...
Der gute dicke Landsturmherr mit der biederen Brille und dem schwarzen Knebelbärtchen ist ja Herr oder M i s t e r M e s c h u g g e aus Berlin... der wirklich und einzig echte! Drunten... lauschen Generäle, Offiziere und Soldaten...





Ab Juli 1916 kam es um Baranowitschi zu heftigen Kämpfen, bei denen auf beiden Seiten 10.000 Soldaten starben. Das Bataillon von Robert Krüger beteiligte sich an den Kämpfen, zog dann aber wieder Richtung Westen. In "Deutsche Kriegszeitung von Baranowitschi" aus den Jahren 1917 und 1918 wird Krüger nicht mehr erwähnt.

Robert Krüger starb im Alter von 38 Jahren am 22. Juni 1919 in Berlin im Kreise seiner Familie an den Folgen der Verwundungen aus dem Krieg.







Der echte "Mr. Meschugge", Robert Krüger, wurde auf dem jüdischen Friedhof Weißensee beerdigt. Die Idee lebte jedoch weiter. Ende 1919 nahm einer seiner "Nachfolger", Mister Masseltop für die Homocord Platten auf. Ein junger Curt Bois mimte 1919 in dem Lubitsch Film "Die Austernprinzessin" einen meschugge Kapellmeister:

.

Und noch Anfang der zwanziger Jahre traten Original Mr. Meschugge Kapellmeister in Berlin auf, wie dieser Artikel vom Februar 1921 zeigt:




Sogar Jahrzehnte später zog der Name noch...

Mr. Meschugge und seine Zickendrähte
(x2)



Forschung
Jonathan Wipplinger (USA) & Ulrich Biller (Formiggini)

  • Bilder (JW); Sammlung Jonathan Wipplinger

  • Schallplatte "Dixieland" (x1); Sammlung Stompy / Wolfgang Hirschenberger

  • Schallplatte "Austroton" (x2); Sammlung Krammofoon

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