Die Kardosch Sänger
„Es war im Januar. Wir fuhren täglich 3 bis 5 Stunden mit unserem wunderschönen, stromlinierten ‚Funkexpreß’ über verschneite und vereiste Chausseen. Jeden Tag eine neue Stadt, ein neues Hotel, ein neuer Saal, ein neues Publikum. Dann ins Bett! Plötzlich klopft es dreimal. Ich traue meinen Ohren nicht. Wieder dreimal, etwas energischer. ‚Wer ist denn da?’ – ‚Fremdenpolizei! Winterhilfe! Verehrer! usw.’ vernehme ich die etwas angeheiterte Stimme unseres Managers. Um Gottes Willen, was ist dann nachts um 3 Uhr los? ‚In der Bar beginnt gerade ein Nachtkabarett, das Volks wünscht die Kardosch-Sänger zu hören, die anderen vier sind schon da’. Nach zwanzig Minuten taumeln von allen Seite schlaftrunken, aber pflichtbewußt-solidarische Kardosch-Sänger – die alle mit demselben Trick geweckt wurden – in die mit vornehmem Publikum besetzte Bar; sie fluchten noch eine Weile, dann ergaben sie sich ihrem Schicksal. Wir sangen uns in die Sektstimmung der Anwesenden hinein. Unsere Rache war barmherzig. Wir gingen mit einem Tablett – nach alter Zigeunerart – im Saal herum und bald war die Winterhilfe um einige hundert Mark reicher geworden. Die Zeitungen waren am nächsten Tage voll davon. Meine Empörung über die nächtliche Ruhestörung war dadurch besänftigt, doch ist seither mein fester Glaube an ‚My home – my castle’ mächtig erschüttert und so oft ich seitdem im Palasthotel übernachte, übermannt mich eine komische Angst und ein unsicheres Gefühl. Und wenn ich schlafen gehe, stopfe ich mir Watte in die Ohren, um so gegen solche moralischen Überfälle einigermaßen geschützt zu sein.“
Werbeannonce aus dem Kuranzeiger von Bad Wörishofen vom August 1934
Diese Anekdote, die (angeblich) Stephan Kardosch 1935 für den „Ton“ zu Papier brachte, mag der Fantasie der Lindström A.G. entsprungen sein, die für das Werbe-„Magazin für Musik- und Tanzfreunde“ verantwortlich zeichnete. Andererseits zeigt die Geschichte doch die Beliebtheit der Gruppe, die im Kern durchaus der Realität entsprochen haben dürfte. Überhaupt scheint es von den Kardosch-Sängern mehr Mythen als Fakten zu geben – auch von Erna Eggstein, der ersten Frau des Comedian-Harmonists-Gründers Harry Frommermann ist eine entsprechende Legende überliefert: Es soll einen Moment in der Geschichte der Comedian Harmonists gegeben haben, wo dem Gruppengründer der Ausschluss aus dem Ensemble drohte. Seine Frau will davon durch die Kardosch-Sänger erfahren haben, die sich am Nachbartisch eines Lokals lautstark darüber freuten, dass Frommermann bald als neuer Kollege zu ihnen stoßen werde. Die erschütterte Erna Eggstein soll ihrem geknickten Mann geraten haben, sich unentbehrlich zu machen und so viele Arrangements wie nur möglich zu schreiben. Harry Frommermann blieb bekanntlich bei den Comedian Harmonists – was an dieser Geschichte Mythos, was Wahrheit ist, wird man wohl nie endgültig erfahren. Eines aber steht fest: Die Kardosch-Sänger hatten Mitte der 1930er Jahre einen exzellenten Ruf. Wenn es für die Comedian Harmonists überhaupt so etwas wie eine ernstzunehmende Konkurrenz gegeben hat – dann waren die Kardosch-Sänger die bedeutendsten Rivalen, die sich zwar in Stil und Repertoire an die Comedian Harmonists anlehnten, aber durchaus eine eigene, reizvolle Note entwickelten.
Entscheidend für den Erfolg und die außergewöhnliche Qualität der Gruppe waren sicher zwei Faktoren: Zum einen setzte sich das Ensemble aus vier begabten, unterschiedlichen Stimmen zusammen. Paul von Nyiri war nicht nur einer der profunden, sondern auch einer der technisch brillantesten Bässe, die zu jener Zeit für Gesangsgruppen tätig waren. Seine solistische Dominanz bei Stücken wie „Schmetterlinge im Regen“ oder „Wer hat Angst vor dem bösen Wolf?“ ist beeindruckend und begeisternd. Fritz Angermanns dünne, anpassungsfähige, trockene, – ja, man möchte fast sagen – heisere Baritonstimme eignete sich hervorragend für lange, beinahe erzählte Textpassagen wie „In Turkestan“, „Wenn der Bobby und die Lisa“ oder „Wovon soll der Schornstein rauchen?“. Die feine Stimme des zweiten Tenors Rudi Schuricke wurde nicht nur bei leisen, dezenten Titeln in Szene gesetzt („Kleine Rosmarie“), sondern schmiegte sich wenn nötig auch perfekt an den ersten Tenor („Sie hieß Marietta“). Die Fähigkeit Schurickes, Instrumente zu imitieren, war mit der des Comedian-Harmonists-Gründers Frommermann durchaus vergleichbar – „Der kleine Postillon“ und „Sie trägt ein kleines Jäckchen in blau“ sind hier als Paradebeispiele zu nennen. Obwohl Zeno Costa nur selten rein solistisch in Erscheinung trat – einzig „Ade zur guten Nacht“ ist mir als größere Ausnahme dieser Regel präsent –, trug er mit seinem oft melodieführenden, klaren, in den Höhen strahlenden Tenor entscheidend zum unverwechselbaren Klang der Gruppe bei. Den Fähigkeiten dieser vier Sänger wurde in den Arrangements Rechnung getragen, womit wir beim zweiten Erfolgsfaktor des Ensembles angelangt sind: Die Sätze von Stephan Kardosch hoben sich nicht nur auf Grund ihrer Kreativität und der Auswahl des Repertoires von übrigen Vokalgruppen ab, sondern zeichneten sich auch dadurch aus, dass die vier Sänger gekonnt in Szene gesetzt wurden – Schwächen der einzelnen Stimmen wurden zumeist geschickt umgangen. Viele Einspielungen – besonders deutlich bei „Warum, weshalb, wieso?“ und „Viele hunderttausend weiße Blüten“ – belegen, dass der Klavierpart weniger als Begleitung, sondern vielmehr als fünfte Stimme gedacht war, die jedes Lied wie ein roter Faden motivisch durchzog und zusammenband.
Eines der bekanntesten Bilder der Kardosch-Sänger, entstanden im Berliner Wintergarten. V.l.n.r.: István Kardoš, Zeno Costa, Rudi Schuricke, Fritz Angermann – unten: Paul von Nyiri
István Kardoš, wie der Ungar eigentlich hieß, hatte die Gesangsgruppe wohl Mitte 1932 aufgebaut. Vokalgruppenerfahrungen hatte Kardoš vorher bereits bei den Five Songs gesammelt – die Zusammenhänge zwischen diesem Ensemble und den Kardosch-Sängern sind bis heute nicht geklärt. Vielfach wird davon ausgegangen, dass letzteres Ensemble eine Art Nachfolgegruppe der Five Songs ist. Personelle Kontinuitäten lassen sich dabei aber kaum feststellen. Lediglich der zweite Tenor der Anfangsphase könnte den Five Songs entstammen – sein Name ist allerdings nicht belegt. Bekannt ist lediglich, dass Rudi Schuricke erst ein Jahr nach der Gründung zum Ensemble stieß, angeblich weil Kardoš ihn über den Königsberger Rundfunk gehört hatte und von seiner Stimme begeistert war – ein weiterer Mythos der Gruppengeschichte. Erstmals zu hören ist Schuricke in der Einspielung von „Hallo, kleines Fräulein“ mit Barnabas von Géczy vom Oktober 1933. Mit ihm und seinem Orchester waren die Kardosch-Sänger Anfang 1935 auch auf Deutschlandtournee. Darüber hinaus sind nur wenige Auftritte und Konzertreisen der Gruppe belegt – Tourneen nach Dänemark und in die Niederlande, Rundfunkengagements in Kopenhagen, Hilversum, Frankfurt und Berlin, Reisen durch ganz Deutschland und natürlich Auftritte in der Reichshauptstadt, darunter eine halbjährige Verpflichtung an das Theater am Kurfürstendamm.
Die davon erhaltenen Pressestimmen zeichnen ein durchgehend positives Bild der Publikumsreaktionen:
Vier auserlesene Stimmen, die zusammen einen Klang ergeben, der in Schönheit und Feinheit die Comedian Harmonists übertrifft.
Ein äußerst musikalisches und kultiviertes Quartett mit einem Repertoire, das alle Register von Schuberts „Ständchen“ bis „Stormy weather“ und „Butterflies in the rain“ zieht.
Dvorak’s Humoresque wurde mit einer technischen Meisterschaft gesungen, die imponiert.
Mit ihren künstlerisch fein abgestimmten und mit schauspielerischem Elan vorgetragenen Liedern brachten sie gesangliche Kammermusik mit feinster Modulation.
Den harmonischen Zusammenklang stimmlicher und mimischer Leistungen wussten sie zu beispiellosen Wirkungen zu gestalten.
Dann aber kam der Haupterfolg des Abends: die Kardosch-Sänger. Mit ihren humorvollen, künstlerisch fein abgestimmten Darbietungen versetzten sie das Publikum in ungeheuere Begeisterung, die nach jedem Auftreten noch mächtiger anschwoll und sich fast nicht mehr legen wollte.
Es grenzt oftmals an Stimmbandakrobatik in kaum zu übertreffender harmonischer Zusammenarbeit.
Das singt und klingt, wie ein Instrument. Höchstkultivierte Sprache vereinigt sich mit farbigster Tongebung.
Bedenkt man die Qualität der Gruppe und die zitierte Begeisterung allerorten, wirkt das folgende negative Urteil, am 8. März 1935 in den Kieler Neuesten Nachrichten gedruckt, geradezu kurios: „Eine Enttäuschung waren dagegen – offen gesagt – die den Rundfunkhörern schon bekannten Fünf Kardosch-Sänger, eine trockene Imitation der Comedian Harmonists, denen sie weder an Stimmmaterial noch an Kehlfertigkeit entfernt gleichkommen. Solange sie flotte Schlager mit Humor bringen, wird man sie noch gern hören, bei etwas schwierigeren Aufgaben hapert es bereits. Wenn aber schließlich gar Schuberts ‚Ständchen’ von einem schmächtigen, gedeckten Falsett-Tenor gehaucht wird, während die übrigen Sänger eine Begleitung auf die Silben ‚hm, hm, pang, pang, lori, lori’ u.s.w. dazusummen – dann ist das weder schön, noch geschmackvoll!“ So sehr diese Bewertung auch eine Frage des persönlichen Geschmacks sein mag, der Vergleich, die Rivalität, die Konkurrenz der beiden Gruppen verfolgt die Kardosch-Sänger – damals wie heute.
Selbst die Verpflichtung für den Film „Roman einer Nacht“ verdanken sie den Comedian Harmonists, die, wie eine Vereinbarung im Nachlass des Comedian-Harmonists-Basses Robert Biberti beweist, eigentlich für den Streifen vorgesehen waren. Als die Comedian Harmonists – aus welchen Gründen auch immer – die Aufnahmetermine nicht wahrnehmen konnten, sprangen die Kardosch-Sänger ein. Möglicherweise so kurzfristig, dass nicht alle Sänger für die Aufnahme vor der Kamera zur Verfügung standen und durch Statisten ersetzt wurden? Vielleicht sind Tenor Zeno Coste und Bariton Fritz Angermann deshalb im Bild nicht zu identifizieren, obwohl unzweifelhaft zu hören? Das Ensemble tritt jedenfalls beim finalen Ball der Filmhandlung mit „Ein kleines bisschen Liebe“ und dem Titellied in Erscheinung. Obwohl die Stimmen zweifelsfrei die der Kardosch-Sänger – noch ohne Rudi Schuricke – sind, lässt sich bei den zeitweiligen Großaufnahmen im Film nur Bass Paul von Nyiri eindeutig erkennen. Vergleiche mit Bildern – auch mit Fotos der vermeintlichen Vorgänger Five Songs – lieferten keine Übereinstimmungen.
Ebenfalls aus dem Berliner Wintergarten – im Kostüm
Dieses Aushilfsengagement darf nicht darüber hinwegtäuschen (ist vielmehr Beleg dafür), dass die Kardosch-Sänger im Filmgeschäft bereits bestens etabliert waren. Bereits 1932 wurden drei Spielfilme veröffentlicht, an denen sie mitgewirkt hatten – „Ja, treu ist die Soldatenliebe“, „Moderne Mitgift“ und „Grün ist die Heide“ –, 1933 folgten mit „Tausend für einen Nacht“, „Keinen Tag ohne dich“, „Roman einer Nacht“ und „Glückliche Reise“ vier weitere. Nur die beiden letztgenannten sind – soweit mir bekannt – erhalten, wobei die Kardosch-Sänger in „Glückliche Reise“ ausschließlich zu hören sind. Beginnend im Vorspann leiten die Sänger den Film mit dem Lied „Drüben in der Heimat“ ein. Statt des Ensembles selbst, das hier Ekkehard Arendt begleitet, ist eine Gruppe Farbiger im Bild zu sehen.
Bei allen Erfolgen – die Kardosch-Sänger sind wohl in einem weiteren Punkt den Comedian Harmonists ähnlich: Beide Gruppen erlitten das gleiche Schicksal. Die Kardosch-Sänger verschwinden fast zeitgleich, nur wenige Monate nach den Comedian Harmonists, von den Bühnen, aus den Film-, Platten- und Rundfunkstudios. Die Gründe dafür sind nicht bekannt – die jüdische Abstammung einzelner Ensemblemitglieder oder eine Arbeitserschwernis für ausländische Musiker bleiben reine Spekulation. Belegbar ist, dass zumindest Paul von Nyiri nach 1936 aus dem Berliner Adressbuch verschwindet und wie sein Landsmann István Kardoš wieder in Ungarn auftaucht. Zeno Costa – nicht Coste, wie meist öffentlich angegeben – blieb dagegen in Deutschland, half zwischenzeitlich beim Meister-Sextett als zweiter Tenor aus und war zumindest bis 1942 Mitglied der Genossenschaft deutscher Bühnenangehöriger. Rudi Schuricke fand bei den Spree-Revellers eine neue musikalische Heimat, während Fritz Angermann wohl als Kleindarsteller in die Filmbranche wechselte.
Zwischen September 1932 und Dezember 1935 hatten die Kardosch-Sänger – vorwiegend für die Schallplattenfirmen Telefunken, Odeon und die Deutsche Grammophongesellschaft – rund 80 Stücke eingespielt. Von der „Sonja vom Ural“ über „In der Nacht, da gib acht!“ und „Wissen Sie schon?“ bis hin zu „Ich schwöre nur auf Liese“ haben sie dabei unzählige musikalische Kostbarkeiten geschaffen. Ihr perfekter Klangkörper macht dieses umfangreiche Werkspektrum noch heute zu einem hörenswerten Schatz der Vokalgruppenszene jener Zeit. Und den unumgänglichen Vergleich mit den legendären Comedian Harmonists brauchen die Kardosch-Sänger dabei nicht zu scheuen. Ganz im Gegenteil. Oder, wie die Wiesbadener Zeitung im Januar 1934 titelte: „Jedes weitere Wort ist bei ihrem vollendeten Künstlertum zuviel“.
Aus einem Programmheft zum „heiteren Abend“ mit Barnabas von Géczy und seinem Orchester
Ohne die umfassende Hilfe zahlreicher Sammlerkollegen und Historiker wäre dieser Artikel nicht möglich gewesen. Daher möchte ich mich ganz herzlich bei Hans Buchholz, Michael Hortig, Karsten Lehl, Theo Niemeyer, Géza Gábor Simon und vor allem Hans-Joachim Schröer bedanken.
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