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Von der Laus zur Schallplatte (1932)
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Formiggini
Mi Dez 23 2015, 10:55 Druck Ansicht

⇒ Mitglied seit ⇐: Di Dez 28 2010, 19:20
Beiträge: 1579
Ein schön zu lesender Artikel über die Entstehung einer Schellackplatte. Zwar wird auch auf die Technik eingegangen, gerade aber die (kurzen) Einblicke in die Arbeitsbedingungen machen den Artikel sehr interessant. Heute muss, hoffentlich, niemand mehr in einer Schallplattenfabrik Schreikrämpfe wegen eines Tangos bekommen...

Ähnlicher Artikel: Interview mit der Schallplatte


Der Werdegang einer guten Bekannten


Die Laus Tachardia lacca


Sie gehört zur Familie der Coccideen. Ihr Leib ist aufgedunsen wie ein Ballon — ein unförmiger, häßlicher Ballon. Um so kleiner ist der Kopf. Das Tier bewegt sich kaum vom Fleck. Auch wenn es wollte — es könnte nicht. Denn vorn, hinten, rund herum sitzen auf den Zweigen seine Stammgenossen. Blattläuse der Art Tachardia lacca.

Was die Allgäuer Kühe unter den Kühen, was die Rolls Royces unter den Automobilen, das ist die Tachardia lacca unter den Blattläusen Indiens. Sie lebt auch nicht auf jeden x-beliebigen Strauch. Es muß schon eine Acacia Ärabica sein, schlimmstenfalls eine Ficus Religiosa (der heilige Feigenbaum). Mit ihrem Rüssel nimmt sie den Saft dieser Pflanzen auf. Als rote klebrige Masse verläßt er an einer andern Stelle wieder ihren Körper. Er bleibt an den Ästen haften, er wird hart und glänzend. Wie Lack. Stocklack nennt man ihn. Aus Stocklack wird Schellack... und Schellack ist der Grundstoff unserer Schallplatte.

Auf den Feldern der Ficus.

Wenn es Mai wird, ziehen die indischen Kleinbauern auf die Felder. Männer, die vier Anna (60 Groschen) im Tag verdienen. Sie kommen zu Mister Mukerjee von der Rajputara Shell-Lac Company. Dicke Scheren werden ihnen in die Hand gedrückt. Mit ihnen gehen sie auf die Felder der Ficus Religiosa, die rot sind wie der Sonnenuntergang. Und von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, dreizehn Stunden im Tage, krachen jetzt die roten Zweige zwischen den Scherenbacken.

Die Tachardia lacca merkt nichts mehr davon. Sie ist nicht mehr - übriggeblieben ist nur die rote glänzende Masse, der Stocklack. Der wird mit den Zweigen in die Magazine der Rajputara Shell-Lac Company gebracht. Zu den Frauen und Kindern, die sortieren, zerkleinern, waschen. Dann kommt er in den Schmelztiegel, durch den Filter, in den Kühlraum, in die Kisten, braune Tafeln, die leicht abblättern. Schellack — via Kalkutta nach Rotterdam und Berlin.


Plattenbiskuiks werden fertig

Ein Vorort von Berlin. In der „Müllerei" der Schallplattenfabrik. Der ganze Raum ist wie mit grauem Flor umlegt. In der Mitte dröhnen einige Ungeheuer von „Kaffeemühlen". An den Wänden, auf den Mühlen, auf den Armen und Gesichtern der Arbeiter: überall Staub! Staub speien die Mühlen aus. Zentnerweise. Schellack? Nichts von Schellack ist in dieser dunkelgrauen Masse zu erkennen. Auch keiner der andern Bestandteile der zukünftigen Schallplatte. Weder Schellack noch Baumwolle, noch Harz, noch Ruß, noch Feldspatschiefer.

Gleich nebenan ist die Walzerei. Der Staub kommt zwischen die sich drehenden heißen Walzen, quillt als dicker Brei, als Lava heraus. Die Lava wird zu dünnen Platten gepreßt und bereits in der Maschine in gleiche Quadrate aufgeteilt. Auf dem Kühltisch erkaltet die Platte rasch, die vorgezeichneten Vierecke werden von Arbeitern glatt abgebrochen. Das sind die „Biskuits". Zwei von ihnen enthalten genau soviel Stoff, wie zum Pressen einer 25-Zentimeter-Schallplatte nötig ist.

Achtung - Aufnahme!

Vormittags im Studio einer Schallplattenfabrik. Erstes knarrendes Zeichen. Der Regisseur erhebt die Hand: „Achtung!". Zweites knarrendes Zeichen. „Pst!" Da: jemand hustet! Der Franzose, der Saxophonist. Rotes Signal leuchtet auf. Der Regisseur winkt verzweifelt ab. „Müssen Sie ausgerechnet jetzt husten. Und ist das überhaupt ein Husten? Sie husten ja gar nicht richtig..." — „Ich uste, ich uste richtig..." — „Ich huste auch — aber, Mensch, doch nicht nach dem zweiten Zeichen!"

Erstes knarrendes Zeichen. Zweites. Ein rotes Signal leuchtet auf. Auf dem Grammophon rattert eine Schallplatte. Das ist das „Autogeräusch" für die Aufnahme, die nun folgt. Geigen fallen ein: Tango. Ein kleiner Herr mit vorbildlich polierten Fingernägeln tritt ganz nahe an das Mikrophon heran. Er singt ganz leise Spolianskis Schlager aus der Revue „Alles Schwindel": „Mit dir möchte ich mal auf der Avus Tango tanzen, bei rotem Licht... Nur ich mit dir. Mit dir möchte ich mal auf der Avus Tango tanzen. Mehr will ich nicht. Nachts um halb vier."


Der A u f n a h m e a p p a r a t ist im Nebenraum. Der Eintritt ist strengstens untersagt. Patentgeheimnis! Aus diesem Patent beziehen die Elektrokonzerne, die Patentinhaber ihren Tribut. Ein Kabel verbindet das Mikrophon mit dem Aufnahmeapparat. Eine Membran überträgt die Schwingungen auf einen Saphirstift. Der Saphirstift ritzt sich in eine rotierende Wachsplatte ein. Jede Sekunde legt der Stift 1,20 Meter zurück. Die Spur des Stiftes auf der Wachsplatte ist nur 0,04 Millimeter tief. Das zuckersüße, schmachtende Pianissimo des Sängers mit den sorgfältig polierten Fingernageln hinterläßt auf der Platte Nichts andres als Wellen. Seichte Wellen, die nur unter der Lupe zu erkennen und zu unterscheiden sind.


Der Saphirstift hat 110 Meter zurückgelegt, 120, 130, 160. Das Orchester setzt plötzlich ab, alles verharrt in der letzten Körperstellung. wie gestellte Wachsfiguren sieht das aus; das rote Zeichen verschwindet. „Die war aber besser", kommt der erste Laut aus der Stille des Aufnahmeraumes. Die Wachsplatte ist fertig. Und nun wird sie mit äußerster Vorsicht eingepackt und nach der Fabrik geschafft. Hier wird ihr Gesicht auf eine härtere, dauerhaftere Materie übertragen. Das geschieht in der Galvanik.

Der „Vater" ist da!

Die Luft riecht sauer, ätzend sauer. Meine Augen beginnen leicht zu tränen. Vor einem Jahre soll es noch ärger gewesen sein. Da hatten die Bäder noch keine Deckgläser. Bank an Bank stehen sie da, die Bäder, über ihnen ein Netz von Röhren, Leitungen, Messinstrumenten (Manometer, Amperemeter). Die Flüssigkeit ist Schwefelsäure und Kupfervitriol.


In sie werden die Wachsplatte und eine Kupferplatte gehängt. Beide mit einer elektrischen Leitung verbunden. Nun wird der Strom eingeschaltet. Seine Aufgabe ist es, auf der Oberfläche der Wachsplatte gleichmäßig und fein Kupfer niederzuschlagen. Nach vierundzwanzig Stunden hat er seine Pflicht erfüllt: die Kupferplatte ist stark genug und wird leicht vom Wachs abgelöst. Der „Vater", wie es im Fabrikjargon heißt, ist da. Der Vater ist das umgekehrte Ebenbild der Wachsplatte. Was dort Rille, ist hier Erhebung. Es wird noch ein zweiter Negativabzug gemacht. Der wird auf eine stärkere Kupferplatte aufgelötet und vernickelt. Er ist der Erzeuger aller Schallplatten, die ihren Weg über die ganze Welt machen.

Der Vierundzwanzigstundenkontakt mit der Schwefelsäure, den die Wachsplatte gehabt hat, hat keinerlei Spuren an ihr hinterlassen. Anders ist es mit den Kleidern, mit der Haut der Arbeiter. Jeder Spritzer Schwefelsäure auf der Hose gibt später ein Loch. Auf der Haut gibt es Ätzungen, die eitern und zu tiefen Geschwüren führen können. Bei manchen Arbeitern kommt es zu langwierigen Hauterkrankungen, Ekzemen.


Acht Grammophone in einem Raum — und eine Grammophonbändigerin

Auf allen acht drehen sich Matrizen und singen, kreischen, brüllen durcheinander. Was da akustisch entsteht, ist schwer zu beschreiben. Ein Jahrmarkt ist eine Totengruft an Stille dagegen. Ist eine Matritze zu Ende, so dreht das Mädchen den betreffenden Apparat auf und macht einen Strich auf der Lebensliste der Matrize. Nach fünfzig solchen Strichen (das heißt Vollumdrehungen) kommt die Matrize in die angrenzende Abteilung, in den sogenannten „W e r t – T e s t“. Der „Wert-Test" besteht aus geräumigen Glaskabinen. In jeder sitzt ein Mädchen, prüft, ob die Matrize — nach der Lebensdauer von fünfzig Umdrehungen Schaden genommen hat.

Alle 46 Sekunden eine Schallplatte

Die Presserei der Schallplattenfabrik. Vor dem Presser steht der zylinderförmige Automat. Zur rechten Hand der Heiztisch. Er strahlt 150 bis 170 Grad Hitze aus. Der Presser ist deshalb nur leicht bekleidet — aber draußen ist es eisig kalt, dicke Schweißtropfen perlen von seiner Nase, der Stirn. Er sagt: „Auch im Winter 1929, als den Leuten draußen die Ohren abfroren, hatten wir hier nicht unter 40 Grad. Und im Sommer erst!"


10 Uhr 11 Minuten 6 Sekunden. Der Presser legt zwei Plattenbiskuits auf den Heiztisch. Er wartet, bis sie heiß werden; er wischt mit gefetteten Lappen beide Matrizen ab, legt auf jede umgekehrt eine Etikette. Nun nimmt er die Biskuits, rollt sie zusammen und legt sie auf die Form. Schiebt die Form in den Automaten. Hebt einen Hebel: schaltet 150 Atmosphären Druckluft ein. Der Hebel fällt automatisch. Der Presser zieht die Form heraus. Klappt den Automaten auf. Faßt den Grat (Abfall) und wirft ihn auf einen Haufen. Nimmt eine Spachtel, holt die Platte heraus, eine herrliche, glänzende Schallplatte mit rotem Titelschildschild.

Es ist 10 Uhr 11 Minuten 46 Sekunden. Der Presser legt die nächsten
Plattenbiskuits auf den Heiztisch. Er hat 40 Sekunden für eine Schallplatte gebraucht. Schafft also neunzig einer Stunde. Vor vier Jahren war die Stundenleistung fünfundsechzig. Und vor zehn, als es noch Handpressen gab, zweiundzwanzig.


Jeden Tag acht Stunden Schallplattenkonzert

Der Herr, der mich durch die Fabrik führte, schien mein Interesse für die Musikkontrolle nicht zu verstehen. Oder wollte er es nur nicht begreifen? Jedenfalls mußte ich darauf verzichten, die Arbeit Augen zu sehen. Aber nach vielen Mühen fand ich eine junge Frau, die mir erzählte, was ich wissen wollte.

Das Zimmer: ein Kasten, darin ein Tisch mit Grammophon. Schallplatten und ein Mädchen. Vier Presser arbeiten für dieses eine Mädchen. Jede fünfzigste Schallplatte holt sie ab und spielt sie. Acht Stunden täglich nichts andres, als mit höchster Anspannung Schallplatten hören. Bei großen Bestellungen, bei Schlagern, stundenlang dasselbe: „Mit dir möcht´ ich mal auf der Avus tanzen bei rotem Licht, nur ich mit dir." Überlegen Sie einmal, wie lange Sie das aushalten würden“ „Was man dabei fühl?“ Manche bringen es zu einer Zweiteilung der Persönlichkeit. Der eine Teil hört, macht die nötigen Notizen in die Liste, der andre denkt an den nächsten Sonntag und andres — nur nicht an Grammophone. Einigen Mädchen gelingt die Zweiteilung nicht. Dann halten sie die Arbeit auf die Dauer nicht aus. Manchmal bekommen sie Schreikrämpfe, die Nerven gehen mit ihnen durch...

Die meisten aber schaffen es doch wenigstens so lange, bis man sie in eine andre Abteilung versetzt. Und die Platten, die in der Musikkontrolle durch ihre Hände gehen, gelten danach als fehlerfrei. Sie sind freigesprochen, sind für „volljährig" erklärt. Und mit diesem „Zeugnis der Reife" ziehen sie endlich hinaus in die Welt.
Januar 1932, D r. T. K. B e r g e n



Der originale Artikel in "Arbeiter-Zeitung", Nr. 23, Wien war unbebildert.



[ Bearbeitet Mi Dez 23 2015, 11:50 ]
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alang
Do Dez 24 2015, 04:25
⇒ Mitglied seit ⇐: Di Jun 12 2012, 19:52
Wohnort: Delaware, USA
Beiträge: 659
Super Bericht. Vielen Dank dafuer.

Andreas
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Limania
Do Dez 24 2015, 13:58

⇒ Mitglied seit ⇐: Mo Mai 21 2012, 15:14
Beiträge: 1106
Vielen Dank für diesen tollen Bericht und den beeindruckenden Einblick in die schwere und gefährliche Arbeitswelt der damaligen Plattenherstellung.

LG Limania
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