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Musikhaus H. Rawie Osnabrück
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LoopingLoui
So Dez 12 2021, 21:39 Druck Ansicht
"Moderator"

⇒ Mitglied seit ⇐: So Sep 26 2021, 19:14
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Die Pianofortefabrik Rawie wurde 1860 gegründet und stellte in Osnabrück Klaviere und Flügel her. Diese wurden auch über die Reichsgrenzen hinaus verkauft.
Unter Leitung von Karl Rawie wurden weiterhin Klavierreparaturen, Mietinstrumente und eine Schallplatten- und Radiohandlung eingeführt.
Rawie war damit vor dem Krieg eine der besten Adressen für Schallplatten in der Stadt Osnabrück, welche erst 1941 offiziell zur Großstadt befördert wurde.



Osnabrücker Adressbuch 1937/38




Einen Einblick in die exzellente Auswahl die das Geschäft gehabt haben muss erhielt ich im April 2021, durch den Ankauf einer fast unberührten Plattensammlung. Etwa 120 Platten wurden wohl vom Sohn des Porträtatelierbesitzers Fritz Lehmann ausschließlich bei Rawie gekauft. Dieser war zweifellos großer Freund moderner Jazz- und Swingmusik und kaufte sich seine, für damalige Verhältnisse, große Sammlung zwischen 1938-41 zusammen.
Falls Interesse besteht teile ich zu dieser Sammlung in einem anderen Thread mehr. Ich denke aber für ältere Sammler ist so etwas nichts Neues. Für mich als jungen Sammler war es dies aber schon.


Es fanden sich besonders viele Brunswickplatten mit schwarzen Interpreten wie Chick Webb, Ella Fitzgerald und Count Basie dabei.


Aber natürlich waren auch schöne deutsche Schallplatten im Angebot...


Auf ein paar Platten finden sich Aufkleber "vom Funkberater". Dies wird wohl ein Franchise gewesen sein, bei dem sich Platten- und Rundkfunkhändler mit Werbematerial o.ä eindecken konnten? Das "Funkmännchen" fand ich auch bei Werbung vom Musikhaus Lindberg in München.




Mit Beginn des Krieges wurde die breite Auswahl an Platten und damit auch amerikanischen, von den Firmen eingeschränkt (weniger aus ideologischen und mehr aus wirtschaftlichen Gründen).
Kluge Swingliebhaber, aus diversen Städten in Europa, traten an ihre Plattenhändler heran und erkannten, dass sich im Altmaterial der Händler so einige Schätze verbargen. Aus anderen Berichten weiß man, dass freundliche Geschäftsleute gegen Austausch einer anderen alten Platte, diese durch das Altmaterial wühlen ließ. Rawie hingegen machte daraus wohl ein kleines Geschäft und ließ für Kunden interessante Platten zurücklegen (oder zumindest für meinen Vorbesitzer). Das Altmaterial konnte man schließlich auch über andere Wege beschaffen.

So gelangten wirklich hochinteressante Platten, die in Deutschland nicht zu kaufen waren und wohl von Soldaten aus Frankreich und Holland im Heimaturlaub mitgebracht wurden, in die Hände des Musikhauses...




Benny Goodman war wie vielfach bekannt Jude...

Wenn eine Platte nun gar nicht zu beschaffen war wurde sie eben kurzerhand selbst geschnitten:


Leider kann ich aber nicht mit Sicherheit sagen, ob Rawie Decelithplatten für Kunden selbst bespielte (in dem Fall eine Kopie anfertigte) oder sie aus einer anderen Quelle stammt.

Die Platten fanden sich fast alle in ihren originalen Hüllen. Ob aber wirklich 6 RM für eine gebrauchte Platte verlangt wurde?


Die Großestraße in Osnabrück wurde im Krieg schwer zerstört - darunter wohl auch das Geschäft.
Zum Schluss noch eine Ansicht des Musikhauses in den 60er Jahren:


Auch im Jahr 1960 hatte wohl der Sohn des Betreibers den Plan nach Kanada auszuwandern. Dies ist wohl auch der Grund, weshalb der Betrieb irgendwann nicht mehr weiter geführt wurde...

[ Bearbeitet Do Mai 05 2022, 00:24 ]
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Telraphon
Mo Dez 13 2021, 15:12
⇒ Mitglied seit ⇐: Mo Apr 03 2017, 18:57
Beiträge: 333
Aus einem Jugendstil-Klavier:



Das Instrument ist durchaus als hochwertig zu bezeichnen.
Man beachte die sehr einfache und äußerst schlichte Gestaltung der Namenskennung auf dem Stimmstock - eine einfache, billige Schablonenmalerei, die Damals wohl als geradezu schäbig bezeichnet worden wäre. Viele Händler und Hersteller jener Zeit übertrafen sich gegenseitig im Prunk und Schmuck der Verzierungen auf dem Stimmstock - so mancher Hersteller warb mit Medaillen von Ausstellung, man brachte Schnörkel und mehrfarbige Linierungen an, obwohl dieser Teil des Instrumentes i.d.R. nur der Stimmer zu Gesicht bekam. Rawie verzichtete offenbar auf diese "Extras" - dafür aber ist der hölzerne Einsatz des Stimmstockes mit wenigen Handgriffen austauschbar - was dem Instrument bei guter Wartung der Mechanik dann ein nahezu endloses "Leben" und vergleichsweise preiswerte Reparaturen ermöglicht. Auch hier wurde der Stimmstock schon einmal gewechselt:



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shellackotto
Fr Feb 18 2022, 04:35
⇒ Mitglied seit ⇐: Di Feb 15 2022, 21:53
Wohnort: USA
Beiträge: 113
Danke für den interessanten Beitrag! Ich hätte gedacht, dass Platten wie die Benny Goodman-Platte zwischen 1938 und 1941 bestenfalls unter dem Ladentisch verkauft werden konnten. Aber dann wären sie sicher nicht mit einem Ladenaufkleber versehen worden.

Dass die Bluebird-Platte zur selben Zeit bis nach Osnabrück gelangt ist, ist auch eine Kuriosität. Die Platte war beliebt, auch wenn Calloway's Hot Shots kein Name ist, dem ich schon vorher über den Weg gelaufen bin (ist hier sowieso nur ein Pseudonym für zwei ganz verschiedene Orchester). Aufgenommen 1932 und erschienen im selben Jahr als Victor 24037, ist sie schon 1933 auf Victor's Billigmarke Bluebird wiederaufgelegt worden. Deine Kopie ist eine Nachpressung von 1934-1937.
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LoopingLoui
Fr Feb 18 2022, 22:34
"Moderator"

⇒ Mitglied seit ⇐: So Sep 26 2021, 19:14
Wohnort: Altkreis Bersenbrück
Beiträge: 650
Lieben Dank für die Kommentare!

„Unterm Ladentisch“ trifft es sicher - weniger anrüchig ausgedrückt würde ich sagen „für interessierte Kundschaft auf Nachfrage“. Die Einzelhändler damals kannten sich mit Sicherheit alle untereinander, waren vielleicht sogar Freunde (die Söhne beider Händler?) und bedienten solche Wünsche. Meiner Meinung nach machten Einzelhändler früher bedeutend mehr möglich. als sie es heute tun (wollen).
Ich kann leider niemanden mehr fragen.

Zusätzlich dazu war aber vielleicht auch nicht jedem bekannt wer und was nun „verboten“ war. Die meisten tollen (z.b Brunswick-)Platten wurden schließlich in Friedenszeiten ganz regulär verkauft.

Das „Swing-Heinis“ sich am Altmaterial gütlich taten, ist ja aus mehreren Quellen und Orten bekannt wie Berlin, Rostock (Kempowski: Musikhaus Wessel) und Bremen (Musikhaus Warnke).
Bei Letzterem wurden auch angeblich „unterm Ladentisch“ interessante Platten für 4 RM (!) verkauft. Aber Erinnerungen von Zeitzeugen können trügen oder falsch zitiert werden. Es könnte sich auch um aufgerundete Importware für 3,50 RM handeln, die Electrola jedem größeren Geschäft anbot.

Zumindest passt dort die Geschichte um Jazz und Swing im Porträt-Atelier Lehmann und Musikhaus Rawie gut hinein!
LG



[ Bearbeitet Do Mai 05 2022, 00:28 ]
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berauscht
Sa Feb 19 2022, 00:27
"Urgestein" Autor

⇒ Mitglied seit ⇐: Mi Jan 06 2010, 21:59
Beiträge: 1952
Solche Platten wurden auch während des Krieges ganz offen Angeboten und sogar in in Zeitungsannoncen beworben, wie etwa hier am 29. November 1941.

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LoopingLoui
Sa Feb 19 2022, 23:01
"Moderator"

⇒ Mitglied seit ⇐: So Sep 26 2021, 19:14
Wohnort: Altkreis Bersenbrück
Beiträge: 650
Ist ja spannend - Vielen Dank fürs hier teilen!
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gramofan
So Feb 20 2022, 07:59
⇒ Mitglied seit ⇐: Sa Okt 01 2011, 20:32
Wohnort: bei Berlin
Beiträge: 1164
berauscht schrieb ...

Solche Platten wurden auch während des Krieges ganz offen Angeboten und sogar in in Zeitungsannoncen beworben, wie etwa hier am 29. November 1941.




Da würde doch die Quelle interessieren (Welche Zeitung? Welche Seite?)
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berauscht
So Feb 20 2022, 09:09
"Urgestein" Autor

⇒ Mitglied seit ⇐: Mi Jan 06 2010, 21:59
Beiträge: 1952
gramofan schrieb ...

berauscht schrieb ...

Solche Platten wurden auch während des Krieges ganz offen Angeboten und sogar in in Zeitungsannoncen beworben, wie etwa hier am 29. November 1941.




Da würde doch die Quelle interessieren (Welche Zeitung? Welche Seite?)

St. Louis-Blues
Illustrierte Kronen Zeitung 29. November 1941
Kleine Volks-Zeitung 4. Dezember 1941
Illustrierte Kronen Zeitung 4. Dezember 1941
Illustrierte Kronen Zeitung 9. Dezember 1941

Auch der Tiger Rag (als Tigertanz) war zu haben
Kleine Volks-Zeitung 30. November 1941
Kleine Volks-Zeitung 5. Dezember 1941
Kleine Volks-Zeitung 6. Dezember 1941

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LoopingLoui
Fr Mai 06 2022, 00:10
"Moderator"

⇒ Mitglied seit ⇐: So Sep 26 2021, 19:14
Wohnort: Altkreis Bersenbrück
Beiträge: 650
Sammlung Fritz Lehmann, mit wenigen Ausnahmen, bei Rawie erworben:

sammlung_fritz_lehmann_2.pdf

[ Bearbeitet Fr Mai 06 2022, 00:12 ]
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Grammo-Klaus
Fr Mai 06 2022, 10:00
⇒ Mitglied seit ⇐: Mo Jan 27 2014, 11:46
Wohnort: Im sonnigen Westfalenland
Beiträge: 577
Eine tolle Story aus der musikhistorischen Vergangenheit und, not to forget, eine tolle Plattensammlung, welche da die Zeiten überlebt hat. Glückwunsch dazu.
Davon kann ich in meiner gegenwärtigen eher provinziellen Heimatregion nur träumen. GRINS. So einen Schnapper konnte ich mal vor Jahren, noch zu DM-Zeiten via Zeitungsanzeige machen. Allerdings war das in Bielefeld gewesen. Da bot jemand ca. 200 Schellackplatten an, alles US-Aufnahmen. Ich fuhr da bereits vormittags hin und nahm auch alles mit. Allerdings waren das schon Nachkriegspressungen so ab ca. 1946 aufwärts, incl. einer fast kompletten Stan Kenton-Orchestra Sammlung. Alles auf Capitol-Records nur deutsche Pressungen und zwei Kenton-Platten waren auf Brunswick-Records. Dazu noch andere Electrola- und ODEON-Platten mit Jazz und Swing drauf. Die Platten waren auch wie neu und hatten alle originalen Hüllen und Laut Aussage des Vorbesitzers wurden diese Platten einmalig für eine Überspielung auf Tonband genutzt, um dann über ein halbes Jahrhundert im Schrank zu stehen. Erfahrungsgemäß passiert mir das immer so ca. 1 mal im Jahr. OK, das ist nicht viel, aber eben regional bedingt, eben wo man wohnt und welche Angebote und Möglichkeiten man immer so bekommen mag.
Daher, wär für meine Situation Deine Sammlung mit dem Output, für mich sowas wie ein Sechser im Lotto, wo andere Leute mit besseren Verbindungen wohl nur ganz leicht und müde darüber gähnen würden.
Daher nochmals von meiner Seite, Glückwunsch zu diesen tollen Platten.
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