Ragtime in der K.u.K Monarchie





Wolfgang Hirschenberger

POPULÄRE MUSIK UND JAZZ IN ÖSTERREICH
HISTORISCHE TONDOKUMENTE
1902 - 1920


Ragtime


"Wien bleibt Wien - und das ist wohl das schlimmste, was man über diese Stadt sagen kann," unkte der Wiener Feuilletonist und Theaterkritiker Alfred Polgar einmal.
Und er tat es in einer Zeit, in der die damalige Hauptstadt der K. und K. Österreichisch-Ungarischen Monarchie, nicht anders als andere europäische Metropolen auch, einer ständigen Konfrontation mit den vielen politischen, wissenschaftlichen, industriellen und kulturellen Umwälzungen der damals einsetzenden, so genannten „Moderne“ schon lange gar nicht mehr ausweichen konnte.

Die Großstädte der Monarchie, besonders aber Wien, Budapest und Prag, waren zu Beginn des 20. Jahrhunderts tatsächlich schon längst viel mehr als bloß Begegnens- und Sammelpunkt der Nationen, die das Kaiserreich bevölkerten. Es waren bereits Weltstädte mit relativ komplexer urbaner Infrastruktur, mit internationalen Handelsbeziehungen, und mit weltweiten Kontakten im kulturellen, damit auch (populär-) musikalischen Bereich.

„Buschmenschen in Krähwinkel“




Die „Moderne“ in der europäischen, und damit auch in der österreichischen Unterhaltungsmusik — wann hat sie begonnen?
Nahezu allen populärmusikalischen Strömungen, wie wir sie heute kennen (Rock, Punk, Soul, Reggae, Funk usw.), ist eines gemeinsam: Ein mehr oder weniger hoher Anteil afroamerikanischer Einflüsse, die unter anderem über bestimmte rhythmische Eigenschaften definiert werden können (z. B. über das, was die abendländische Musikterminologie als „Synkopen“ bezeichnet).
Das ist heute in so hohem Maße selbstverständlich, so allgegenwärtig, dass uns diese Eigenschaften beim Hören neuerer populärer Musik nicht mehr im mindesten auffallen, geschweige denn noch einen „exotischen Reiz“ auf uns ausüben.

Versuchen wir, uns in die Hörgewohnheiten eines (jungen) Wiener Durchschnittsbürgers gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu versetzen: Dreivierteltakte (Walzer, Ländler), gerade Marsch- und Polkarhythmen, sentimentale Kunstlieder, Marke „Der Fremdenlegionär“, Operettenschlager oder romantische Salon- und Charakterstücke („Die Mühle im Schwarzwald“) prägten das musikalische Empfinden des durchschnittlichen (Mittel-) Europäers.
Ein exotischer, fremdländischer Touch war trotzdem immer beliebt, aber im allgemeinen musste alles stets säuberlich adaptiert und für das europäische Ohr formal, melodisch und harmonisch zurechtgestutzt sein.

Was zählte, war zunächst mehr die Etikettierung, die äußere Form und weniger der authentische musikalische Gehalt. Denn spätestens seit das 19. Jahrhundert die Anthropologie als Wissenschaftszweig etabliert hatte, war joviales, oft auch sentimentales Interesse an kulturellen und damit auch musikalischen Ausdrucksformen anderer, ferner Kulturen und „andersrassiger Menschen“ mehr als salonfähig geworden. Es war geradezu eine modische Attitüde der bürgerlichen Romantik, sich in schöngeistiger Entrückung mal genüsslich in den neuesten Reisebericht zu „den Hottentotten“ zu vertiefen oder sich an einer Theatervorstellung, die „im Urwald“ handelt, zu ergötzen.
Gerne und nur allzu oft ließ das Lebensgefühl des spätromantischen Zeitalters die Grenzen zwischen wissenschaftlicher bzw. künstlerischer Akkuratesse und süßlicher Verklärung durch die Alltagskultur verschwimmen.

Die Folge war auf einer Seite eine wahre Flut populärwissenschaftlicher Berichte (allen voran wohl Humboldt) über Expeditionen in unbekannte Länder, zu fremden Völkern, in entlegene Weltgegenden.
Auf der anderen Seite peilten (fiktive) Abenteuererzählungen und belletristische Buchveröffentlichungen (Karl May) bei den Lesern vermehrt nicht bloß sachliches Interesse, sondern auch Neugierde oder Sehnsucht nach dem Reiz des Fremden, Exotischen an. Ebenso in der Musik: Während Meister der symphonischen Programmmusik (etwa Antonin Dvořak) zu künstlerisch ausgereiften Werken wie „Aus der Neuen Welt“ (Neunte Symphonie in e-moll op. 95, 1893) inspiriert wurden, überschwemmte die eben entstehende Massenmusikindustrie den Markt mit romantischen oder deskriptiven Charakter- und Salonstücken — alles zunächst in Form von Noten, später (ab ca.1900) auch in Form von Phonographenwalzen und Grammophonplatten. „Auf einem persischen Markt“, die „Chinesische Straßenserenade“, der „Japanische Laternentanz“ oder der „Indische Brautzug“ — falls sie heute noch wer kennt: sie sind sehr typische, populäre Charakterstücke des 19. / frühen 20. Jahrhunderts und stehen für eine Unzahl musikalischer Talmi - Exotika, die dieses damals modische Bedürfnis des bürgerlichen Europäers nach (angeblich) exotischen Erlebniswelten auf tönende Weise zu befriedigen suchten. Selbst Sebastián de Yradiers unverwüstliches „La Paloma“ mit seinem kubanisch charakterisierenden Habanera-Rhythmus kann unter solchen Gesichtspunkten noch dieser Kategorie zugerechnet werden, auch wenn die Komposition an sich kein Charakterstück im engeren Sinne ist.

In einer Zeit, in der Fernreisen für die allermeisten durchaus unerschwinglich und aufwändig waren, durfte sich z. B. ein kleiner k. und k. Unteroffizier aber auch durch den Besuch einer „Fremdvölkerschau“ ein bisschen als Weltbürger wähnen. In allen größeren Städten des europäischen Kontinents waren sonntägliche Familienausflüge zu „Menschenschauanstalten“ oder Völkerpanoptikums beliebt, so auch in Wien:

„Nicht viel anders als Tiere in einer Manege zeigte man im Rahmen einer Menschenschauanstalt ein Buschmann-Paar mit Kind sowie eine junge Afrikanerin aus Angola. In einer Hütte in der Jägerzeile (heute Praterstraße, Anm. d. Verf.) waren im Winter 1819 / 1820 diese Menschen zu sehen, die Tänze aufführten, sangen und mit primitiven Waffen Scheinkämpfe ausfochten (...) Das Josefstädter Theater nahm die Anwesenheit der so genannten Buschmenschen zum Anlass, eine Posse, „Die Buschmänner“ aufzuführen, worin ein Schauspieler die Buschmänner nachahmte. Wenig später gab es im Leopoldstädter Theater eine Parodie von Meisl, „Die Buschmenschen in Krähwinkel“. Raimund spielte darin einen Schauspieler, der als Mitglied einer Truppe einen Buschmenschen darzustellen hatte“ (zit. n. Gerda Barth in: „Fremde Völker – Fremde Tiere. Exotische Artisten und Tiere in Wien 1772 – 1935“, Hg. und Mitverfasser Berthold Lang)

Dazu noch folgende (exemplarische) Aufzählung:
*1833 zeigt man in Wien „Afrikaner von der kriegerischen Nation der Ashantees“;
*Circus Hagenbeck bringt 1878, 1884, 1885, 1897, 1898, 1903 (und 1930) „Fremdvölkerschauen“ nach Wien;
*1889 präsentieren Whitney und Blanchet in der Praterrotunde die Schau „Wild America“;
*Buffalo Bill gastiert 1890 und 1906 mit seiner Truppe in Wien;
*Circus Schumann zeigt in der Märzstraße 1891 „Dahomey-Amazonen: dreißig Negerinnen“. In einer zeitgenössischen Rezension heißt es dazu:

„Zeitweise vertauschten sie Kochlöffel mit Büchsen, Krummsäbeln und Dolchen und führten einen phantastischen Kriegstanz auf“

Die „Dahomey-Amazonen“ sind nochmals 1902 in „Venedig in Wien“ (Prater) zu sehen.

All diese Events waren für ein Massenpublikum konzipiert, erstreckten sich oft über viele Wochen und wurden von abertausenden, Eintritt zahlenden Menschen besucht.
Manchmal waren sie also wahre Open-Airs der Schaulust, die im Regelfall auch mit dementsprechenden kommerziellen Erfolgen für die Veranstalter verbunden waren (weniger für die nach Europa verschifften „exotischen Menschen“, die nur allzu oft mit einseitigen, hastig ausgehandelten Verträgen abgespeist wurden. Es gab allerdings auch Ausnahmen).

Der echten Aufklärung oder Information über die Traditionen, Bräuche, über das kulturelle Wesen der dargestellten Völker dürften diese Veranstaltungen nicht wirklich dienlich gewesen sein. Da musste schon mal ein Südafrikaner für einen Sudanesen „einspringen“, wenn letzterer z. B. wegen Erkältung ausfiel.
Das anthropologische Interesse war Vorwand. Der Unterhaltungswert rangierte offenbar weit vor dem Informationsgehalt. Und für den (mittel)europäischen Bürgermenschen geriet solche Unterhaltung um so genüsslicher, je effektiver sie seinen Bildungs- und Kulturdünkel speiste, je griffiger sie sein Selbstgefühl als Kolonialherr nährte. Griffig im wahrsten Sinne des Wortes: Die physische Berührung der „ausgestellten“ Exoten bedeutete oft den krönenden Höhepunkt der großstädtischen Naturvölkersafari.

Zu welchen Uhrzeiten das Trennseil gelockert wurde, bestimmten die Aussteller, nicht die Ausgestellten. Im Rahmen der Völkerschau lief die Präsentation der unbekannten Kulturen also stets auf eine Darbietung, Inszenierung hinaus. Regie führten dabei die Veranstalter, Ausführende waren die Exoten. Die Elemente des Darstellerischen, Theatralischen und nicht zuletzt musikalische Einlagen spielten deshalb ganz eindeutig schon in diesen heute geradezu rassistisch anmutenden „Menschenzoos“ des 19. Jahrhunderts eine Schlüsselrolle.

Soviel zu den gesellschaftlichen und kulturellen Rahmenbedingungen, unter denen afroamerikanische Einflüsse (neben anderen, in unserem Zusammenhang weniger bedeutenden) beginnen konnten, die musikalische Unterhaltungskultur der k. und k. Monarchie vor 1914 schließlich auf immer breiterer Ebene zu infiltrieren.
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