Ragtime in der K.u.K Monarchie
Die deutschstämmige Schauspielerin und Gesangssoubrette Lotte Witt (*Berlin 1870, †Wien 1938) begann ihre Karriere 1889 in Elberfeld, gastierte aber schon 1895 am Wiener Hofburgtheater. Nach Ablauf eines Engagements in Hamburg wurde sie ab 1898 ständiges Mitglied des Burgtheaters.
Aus dieser Zeit (1902) stammt auch ihre Aufnahme des amerikanischen Ragtime-Songklassikers „Hello my baby“. Einen neuen Song aus den USA in einem Wiener Schallplattenstudio aufzunehmen, das war zu so einem frühen Zeitpunkt schon etwas ziemlich Ungewöhnliches. Ihn vor dem Aufnahmetrichter aber auch noch in der englischen Originalsprache vorzutragen war für eine deutsche Schauspielerin ein nahezu experimentelles Wagnis ... Lotte Witt singt denn auch nicht ganz akzentfrei, und der Text scheint gegenüber den Original-Lyrics (von Ida Emerson) leicht abgewandelt: Das Wort „Ragtime“ ist nicht zu hören. Aber es gelingt ihr, dem Lied einen Hauch von New Yorker Vaudeville zu verleihen, wenn auch die Tonqualität der alten Originalschallplatte stark zu wünschen übrig lässt.
Die Contraalt - Sängerin Arabella (oder „Belle“) Fields (*Philadelphia 1879, †?) war nicht Australierin, wie es das Gartenbau-Varieté in seinem Programm von 1911 (wohl aus Publicity – Gründen) ankündigte. Ihr klingender Beiname war auch die „Schwarze Nachtigall“: so ist es auf den Labels der alten original Anker-Schellackplatten zu lesen.
Sie war amerikanische Staatsbürgerin, verbrachte aber einen großen Teil Ihrer künstlerischen Laufbahn in Europa, so auch Österreich-Ungarn. Belegt sind unter anderem Engagements in Böhmen (1899, 1906, 1907), Galizien (1907), Wien (1908, 1911, 1912, 1922), Budapest (1910), Graz (1910) und Innsbruck (1912). Die Anker-Aufnahme „Weil ich dich liebe – Because I love You“ entstand nicht in Österreich, sondern in Berlin, wo sie im Dezember 1907 ihre einzigen Schallplatten einspielte. Weder ihre Lieder noch ihre Interpretationen klingen nach heutigem Empfinden sonderlich „afroamerikanisch“, obwohl die alten Schallplattenlabels sie ausdrücklich als „Coon Song – Negerlied“ ausweisen. Aber die Künstlerin war damals nicht nur eine beliebte Attraktion, sondern auch eine der meistengagierten Wegbereiterinnen für den Einfluss farbigen Entertainments in Mitteleuropa. Darüber hinaus handelt es sich bei Fields’ Schallplatten um seltene Beispiele zeitgenössischer Studioaufnahmen eines afroamerikanischer Künstlers im deutschsprachigen Raum.
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Über die Entstehung des frühen amerikanischen Paar- und Schreittanzes wurde im Zusammenhang mit dem Begriff selbst schon viel geschrieben und spekuliert. Am schlüssigsten scheint immer noch die Erklärung, der Cakewalk sei bei Tanzwettbewerben (der Farbigen) auf den Plantagen entstanden. Der Preis für das beste Tanzpaar sei ein Kuchen gewesen.
Den Prototyp des komponierten, verlagsfähigen Cakewalk, wie er um 1900 auch nach Europa gelangte, hat jedenfalls der weiße US-Amerikaner Kerry Mills 1897 präsentiert: „At A Georgia Campmeeting“ gehörte sowohl in den USA als auch in Europa zu den bekanntesten und beliebtesten Cakewalks.
Sousa's Band - Monarch Records 1900
Die Musik des Cakewalk kann nur bedingt als Vorläufer des Ragtime bezeichnet werden. Richtiger ist, dass die rhythmischen Merkmale des Ragtime aus denselben Quellen stammen wie die des Cakewalk, nämlich aus älteren Tanzweisen, die im 19. Jhdt. in den amerikanischen Südstaaten entstanden waren.
Die Musik des Cakewalk ist formal ähnlich strukturiert wie der Rag, aber deutlich schlichter synkopiert und damit dem Marsch um einiges ähnlicher. Mit „Mumblin Moss“ (= „Mumblin Mose“) folgt der Brite T. W. Thurban dem bewährten Modell á la Mills und bringt damit (nach „Brooklyn Cake Walk“) seinen zweiten erfolgreichen Cakewalk auf den europäischen Markt.
Die Kapelle des tschechischen Infanterie-Regimentes Nr. 102 spielt diesen Cakewalk ca. 1908 unter der Bezeichnung „Marche-Two-Step“ für Grammophon ein. In Europa war der Cakewalk zunächst (ab ca. 1900) eine reine Shownummer, vorgeführt von farbigen und weißen Tourneekünstlern aus den USA. Wenig später konnte man den Tanz auch bei modegerecht fortgebildeten Tanzlehrern selbst erlernen. Der Wiener Tanzlehrer W. K. von Jolizza, Herausgeber und Autor des Tanzbreviers „Die Schule des Tanzes“, schreibt 1907:
„Dieser groteske, aus Amerika stammende Tanz, der entschieden mehr Anspruch auf Originalität als auf Schönheit machen kann, hat unbegreiflicherweise in allen Salons Einzug gefunden und sich auch schon über ganz Europa verbreitet. Einem Negertanz nachgebildet, liegt heute noch der Hauptreiz des Cakewalk in dessen charakteristischen Posen, während die plumpen Schritte und grotesken Sprünge der Neger größtenteils durch moderne Tanzschritte ersetzt wurden." (Zit. n. Günther: Tänze und Riten ...., S. 109)
Robert Vollstedt, Deutscher, zeichnet für den Cakewalk „Eine vergnügte Negerhochzeit“ verantwortlich. Die Jagdausstellung Manhattan Kapelle unter der Leitung des Komponisten und Juristen Dr. Philipp Silber (Wien 1876, †Mauthausen? 1942) war eigentlich ein Blasorchester aus rein österreichischen Musikern. Es bot den Besuchern der 1. Internationalen Wiener Jagdausstellung auf dem Gelände im Wiener Prater sehr wahrscheinlich internationale Unterhaltungsmusik. In einem speziell errichten Musikpavillon war die Kapelle dort Mitte 1910 zu hören. Philipp Silber gebührt das Verdienst, Mitbegründer der 1913 praktisch neu gegründeten AKM, der Österreichischen Gesellschaft der Autoren, Komponisten und Musikverleger zu sein (ein Vorläufer der AKM existierte schon seit 1897). Als zweiter Vizepräsident gehörte er 1913 bis 1916 dem Schiedsgericht der AKM an.
Selbstverständlich war auch die Jagdausstellung Anlass genug für die Errichtung eines „afrikanischen Negerdorfes“. Abessinische Farbige campierten für ein paar Monate in einem eigens aufgebauten pseudo-anthropologischen Freilichtmuseum unweit von Wurstelprater und Rotunde. Zwischen dem Wiener Kaffeehausliteraten Peter Altenberg und einem der abessinischen Mädchen entwickelte sich damals angeblich sogar eine Affäre.
„Hiawatha“, „Anona“ und „Hobomoko“ illustrieren einen Untertypus des Ragtime: die „Red Indian Pieces“.
1904
Seit Charles Daniels (alias Neil Moret) 1901 von den USA aus mit Hiawatha die erste weltweit erfolgreiche Vorlage geliefert hatte, folgten in den kommenden Jahren buchstäblich hunderte Indianer-Piécen, deren Strickmuster ebenso simpel wie effektiv wirkte:
Ähnlich den Cake Walks handelte es sich meist um schwach bzw. einfach synkopierte Märsche, aber unter vermehrter Verwendung von Staccatos und kurzen, sich wiederholenden rhythmischen Phrasen. Für die Interpretation dieser rhythmischen indianischen Charakterstücke waren Blasorchester und Militärkapellen bestens prädestiniert.
Überhaupt leisteten Militärkapellen in ganz Europa einen entscheidenden Beitrag zur Verbreitung amerikanischen Musikgutes. Vermutlich wurden viele der Original-Arrangements aus den USA weitgehend unverändert übernommen. Nebenbei war es bis weit ins 19. Jahrhundert hinein Brauch, die Aufgaben des Schlagwerkers oder Schellenbaumträgers einem sogenannten „Mohren“ zu übertragen. Österreich-Ungarn erreichte zwar niemals den Status einer echten Kolonialmacht, doch auch in den frühen Militärorchestern der Doppelmonarchie galt der gelegentliche Einsatz farbiger Schlagwerker als prestigeträchtiges Manöver bei repräsentativen Musiziergelegenheiten.
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