Ende des Walzer Jahrhunderts - SYNKOPEN-TÄNZE



Eine erstaunliche Aufnahme eines amerikanischen Tin Pan Alley-Cakewalks wird von deutschen Militärorchestern bereits 1900 vorgelegt. Sie heißt Negerständchen, ist ein Ragtime für Blasorchester von Arthur Pryor und wird (laut Plattentext) von der Kapelle des ,,Kaiser Alexander Garde-Grenadier-Regiments" unter der Leitung des Königlichen Musikdirektors Neumann aus Berlin gespielt, aufgenommen im Jahre 1900. Im Spezial-Platten-Verzeichnis beliebter Tänze der Deutschen Grammophon-AG vom März 1905 findet sich das fragliche Stück in einer eigenen Kategorie ,,Cakewalk", die wie selbstverständlich neben ,,Walzer", ,,Polonaise", ,,Polka" u. a. Standard-Gesellschaftstänzen des 19. Jahrhunderts aufgeführt wird. Vom Negerständchen (Arthur Pryor: A coon band contest) gibt es laut Hofmeister-Handbuch Bd. 12 (1898-1903) Arrangements in zahlreichen Besetzungsversionen, vom Hamburger Verlag Benjamin vertrieben. Die Deutsche Grammophon-AG bietet sogar noch eine zweite Einspielung an, von der Kapelle des ,,Westf. Pionier-Bat. No. 7" unter der Leitung des Kgl. Musikdirektors Alex Hubert, Köln-Deutz.
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Negerständchen - Kaiser Alexander Garde-Grenadier-Regiment - c. 1900



Obwohl die deutschen Tanzbezeichnungen es nicht immer deutlich machen: es kommen eine ganze Reihe amerikanischer Cakewalk-Ragtimes hier an und werden nachhaltig rezipiert. So geht es etwa mit Perman's Brooklyn Cake Walk (von T. W. Thurban, 1899): in der deutschen Cover-Version nennt er sich "Schatzerl, ich möchte gern ein Automobil" mit der Tanzbezeichung "Automobil Rheinländer". Etwas später, um 1908, verwandelt sich "Schatzerl" in "Schorschl": Als der Börsenspekulant Friedberg 1908 nach einer Pleite mit seiner Freundin zusammen im Automobil flieht, wird das Ereignis als Couplet nach der Melodie des "Brooklyn Cake Walk" vermarktet: "Schorschl, ach kauf mir doch ein Automobil" (Lotz, a.a.O., S.189).

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Das formale Design entspricht der mehrgliedrigen Reprisen-Form des 19. Jahrhunderts: mehrere Perioden mit unterschiedlichem thematischen Material und einigen Wiederholungen, mit deutlichen Teilen zum Tanzen und zum Singen. Synkopierte Melodiephrasen verweisen auf die Ragtime-Basis der Musik.

Aus dem Jahr 1903 stammt ein weiterer US-Import-Cakewalk, der in Deutschland als Polka präsentiert wird, aber von seiner Synkopierung her ohne weiteres seinen Cakewalk-Ursprung verrät: "A wise old owl" (M: Theodore F. Morse, T: Edward Madden, 1903). "Lotte, du süße Maus", so klingt's in deutsch, wird ähnlich wie das "Schatzerl mit dem Automobil" ein Evergreen aus der Kaiserzeit - und ein Stein des Anstoßes für den "Kampf gegen die musikalische Schundliteratur", wie sie etwa der Lehrer Anton Penkert unter Zuhilfenahme bescheidener musikanalytischer Argumente vorträgt. Ihm mißfällt, daß die Beschreibung der Sehnsucht eines Liebenden seiner Meinung so unsäglich banal als Text wie als musikalische Begleitung formuliert wird (Anton Penkert: Das Gassenlied. Eine Kritik, Leipzig 1911, S.54).

Aufgrund der Veröffentlichungsdaten scheint es naheliegend, den Höhepunkt der Cakewalk-Begeisterung europaweit etwa um 1903 anzusetzen. In London gastiert 1903 die erste Cakewalk-Truppe (mit den renommierten schwarzen Tänzern Walker & Williams) in dem Musical "In Dahomey" (UA 1902 in New York). Der enorme Erfolg - das Stück läuft 7 Monate in London - löst vermutlich die europäische Cakewalk-Welle aus. Weitere amerikanische Cakewalk-Gruppen gastieren in Europa, darunter 1903 auch in Berlin.


Walker & Williams 1903


Ein eher komisches Relikt aus dieser Zeit, das unzweideutig auf den Mode-Charakter des Cakewalk hinweist (sozusagen als eine intermediale Referenz), präsentiert das Filmchen CAKEWALK INFERNAL, das George Méliès, der französische Stummfilmpionier, ebenfalls 1903 gedreht hat und als exotisch-teuflische Angelegenheit seinem Filmpublikum präsentiert.


The Infernal Cakewalk (1903)


Und auch aus dem Jahr 1903 stammen zahlreiche Cakewalk-Kompositionen von deutschen Komponisten. Nachdem Léhar bereits 1902 in seine Operette DER RASTELBINDER einen Cakewalk einfügt, gelingt Paul Lincke 1903 ein recht passabler Erfolg mit dem Einzeltitel "Negers Geburtstag. Coon's Birthday", der in seinem musikalischen Zuschnitt den amerikanischen Vorlagen weitgehend entspricht, obgleich ihm keine sonderlich inspirierten Melodieerfindungen gelungen sind.
vgl. Fred Ritzel: "Negerständchen" - Über amerikanische Einflüsse auf die Tanz- und Unterhaltungsmusik der wilhelminischen Ära, in: Bingmann, Anke/Hortschansky, Klaus/Kirsch, Winfried (Hg.): Studien zur Instrumentalmusik (Festschrift Prof.Dr. L. Hoffmann-Erbrecht), Tutzing 1988; Fred Ritzel: "Hätte der Kaiser Jazz getanzt..." US-Tanzmusik in Deutschland vor und nach dem Ersten Weltkrieg, in: Schutte, Sabine (Hg.): "Ich will aber gerade vom Leben singen..." Über populäre Musik vom ausgehenden 19 Jh. bis zum Ende der Weimarer Republik, Reinbek 1987

Weitere Beispiele gibt es u.a. von Jean Gilbert (Cakewalk aus Der Prinzregent, 1903), von R. Schrader (Der Cake-Walk oder Kuchentanz), von Otto Teich (Hänschen und Fränzchen. Amerikanischer Cake-Walk, op. 378), wie auch von dem bereits verstorbenen Josef Strauß, dessen Bearbeiter Ernst Reiterer aus Aktualitätsgründen einen Cakewalk in die posthume Kompilations-Operette Frühlingsluft (1903) hineinbastelt - führende Vertreter der Zunft also, die den neuen Trend wittern und sich bemühen, den Anschluß nicht zu verpassen.

Richard Vollstedt bietet 1903 mit dem "humoristischen Cake Walk" " Eine vergnügte Neger-Hochzeit, op. 215, eines der charakteristischen Beispiele für die wohlwollend-herablassende Verachtung schwarzer Musikkultur, wie sie im Zusammenhang kolonialistischer Arroganz in Deutschland häufig zu beobachten war. In diesem Stück singt "der Neger", allerdings nur auf "La-la-la" und "O No No No" und er lacht sein "Negerlachen" "Hi hi hi" chromatisch abwärts, dazu mit einer äußerst bescheiden erfundenen musikalischen Substanz, unterstützt von etwas deplazierten "Neger-Kastagnetten" - und all dies versteht Vollstedt als "humoristisch".
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Cakewalk
Wien - 1910

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Debussy liegt 1907 mit seinem Golliwogg's cake walk durchaus im Trend, seine fantasievoll-groteske Version des populären Modells hält sich an das formale Schnittmuster und die besonderen idiomatischen Charakteristika (Cakewalk-Synkopenmuster). Und er nutzt die Chance, in einer höchst unfeierlichen Kontamination über Tristan-Zitate gleich seine Anti-Wagner-Haltung und seine "Kritik am metyphysischen Anspruch der deutschen Musik" (wie es Adorno nennt) in das Stück einzubauen. Anstoß für diese Komposition gibt Sousa, den Debussy 1903 hört und seine Cakewalks etwas ironisch bewundert. (Golliwogg nennt sich eine 1895 geschaffene und damals sehr beliebte Spielzeug-Negerpuppe.)

Golliwogg's Cakewalk (1913)


Welte-Mignon Piano Roll #2733
"Golliwogg's Cakewalk"
Claude Debussy, piano


Nach 1910 kommt es einer Art Renaissance des Ragtime-Tanzens, vermutlich hervorgerufen durch den weltweiten Erfolg von Irving Berlins Alexander's Ragtime (Band). Ragtime als Tanztyp bleibt dann einige Jahre im deutschen Tanzrepertoire - der Cakewalk ist bereits weitgehend vergessen - , um Anfang der 20er Jahre allmählich zu verschwinden. Foxtrot, Shimmy und Charleston lösen ihn ab.
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