Ende des Walzer Jahrhunderts - SYNKOPEN-TÄNZE



Bevor ich zu den Südamerika-Importen komme, noch ein letzter nordamerikanischer Tanz, der allerdings nicht aus dem afro-amerikanischen Kontext stammt, sondern aus den feinen Kreisen der Neu-England-Staaten.

VALSE BOSTON


Die neue, elegante Art des langsamen Walzertanzens stellt eine deutliche Reaktion auf die lange Zeit des schnellen Walzerdrehens Wiener Provenienz dar. Entstanden in den 70er und 80er Jahren in den USA erreicht er um 1903 England und Frankreich, sozusagen in Konkurrenz zu den afro-amerikanischen Ragtime und Cakewalk. In London müht sich die "Keen Dancer's Society" um seine Verbreitung, sie nennt sich später Boston Club. Tanzlehrer beginnen etwa um 1907 mit dem Unterricht im Valse Boston. Um 1912 gibt es die ersten deutschen Boston Clubs u.a. in Berlin, Hamburg und Düsseldorf.
Schäfer: Vom Schamanentanz zur Rumba. Die Geschichte des Gesellschaftstanzes, Stuttgart 21975, S.235).

Wie auch die anderen modernen Tänze der Jahrhundertwende ist für den Boston im Unterschied zu den älteren Modetänzen des 19. Jahrhunderts charakteristisch, daß er - obwohl aus der Walzertradition kommend - als Vorwärtstanz fungiert (entstanden aus den Übergangsschritten beim Linksherum-Tanzen des Walzers). Das neue, moderne Tanzen nach vorne ist die zentrale stilistische Neuerung - ein sanftes, ruhiges Gleiten. Oft nutzt man noch in Ermangelung geeigneter Musiken den alten schnellen Walzer, auf dessen Musik der Boston ausgeführt wird (3 Schritte in 2 Takten als eine Einheit, daher eine langsamere Tanzbewegung), auch genannt Boston américain, Zögerwalzer, Valse Hésitation. Erst nach dem 1. Weltkrieg wird Boston stets nach den spezifischen langsameren Walzern, den Valses Boston getanzt.

Zeitgenössische Tanzfachleute erklären den Boston-Erfolg mit einem Wechsel in der Auffassung von "Grazie". Nicht mehr das frühere Drehen und Hopsen, sondern das ruhige Dahingleiten dominiere.

"Unserer ganze Sensibilität ist eine feinere, kompliziertere geworden, wir können uns heute unmöglich noch mit der etwas mechanischen Tanzweise begnügen, mit dem etwas banalen Rhythmus; er interessiert uns nicht mehr; wir haben daher den Tanz komplizierter gemacht, ihm eine größere Bewegungsfreiheit verliehen; wir tanzen künstlerischer und gehen viel mehr auf die Intentionen der Musik ein, einer Musik, die vielleicht weniger gut komponiert, doch viel nervöser ist als die alten hm-ta-ta-mh-tata-Walzer." (Koebner/Leonard, a.a.O., S.14-15)


Berühmte Boston-Musiken kommen gar aus dem Bereich der Semi-Kunstmusik. So der Apachentanz von Jacques Offenbach oder der Valse Boston aus dem Ballett "Die Millionen des Harlekins" von Richard Drigo (1909).

TANGO



(Tango-Postkarte um 1913, Sammlung von Sabine Giesbrecht-Schutte)


Von den Tänzen, die in der Zeit vor dem 1. Weltkrieg aus Südamerika nach Europa kommen, hat sicherlich der Tango die größte Bedeutung erlangt. Selbst heute noch, nach fast 100 Jahren Tangogeschichte in Europa findet er als einziger Modetanz aus der Zeit vor dem 1. Weltkrieg Interesse und glühende Verehrung. Und als soziales Phänomen scheint er in den 80er und 90er Jahren zu seinen europäischen Anfängen zurückzukehren: er bewegt nicht die breite Masse, sondern findet Anklang in spezifischen Zirkeln bei Studenten, Intellektuellen, Bildungsbürgern, sozusagen im Selbstverwirklichungs- und Niveaumilieu
(vgl. Gerhard Schulze: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt/New York 1992).

Seine argentinische Genese in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts offenbart die Erfolgsgeschichte einer multikulturellen Symbiose vielfältiger Herkunft, jedoch unter Dominanz europäischer Unterhaltungsmusiktraditionen. Es entsteht eine spezifische Tanzmusikkultur der argentinischen Großstadtslums, mit charakteristischen Tanzformen, mitreißender Musik und eindrucksvollen Texten, zunächst im Lunfardo, der regionalen Gaunersprache, dann im südamerikanischen Spanisch.

Der Sprung nach Europa geschieht höchst prosaisch, als Nebenwirkung einer musikindustriellen Aktivität. Nach der Jahrhundertwende scheint sich in Argentinien ein Absatzmarkt für Schallplatten und Noten zu entwickeln, nicht zuletzt über den argentinischen Erfolg der Ragtime-Musik, die zum Cake Walk erklingt und interessanterweise aus Frankreich importiert wurde.
Willy Olliver/Tomás Mooney, Begleittext zur Schallplatte "Jazz and Hot Dance in Argentina. Volume One", HQ 2010)

Junge bürgerliche Kreise begeistern sich für die aufwühlende Musik der Vorstädte, besuchen die Bordelle und Bars und fragen Musikwaren nach. Da entsprechende Technologien in Argentinien jedoch noch nicht ausreichend vorhanden sind, reisen argentinische Musiker um 1907 zwecks Schallplattenaufnahmen nach Paris. Paris war von jeher das kulturelle Mekka der argentinischen Bürgersehnsüchte und die merkwürdigen Tanz- und Musikkünste der Argentinier finden in Paris aufmerksame Ohren und plötzlich großes Interesse. Was diese Argentinier vorführen, entfacht eine regelrecht Mode in den feinen Kreise der Pariser Jugend. In den Lokalen entstehen spontan kleine Tanzflächen, die Tanzlehrer bemühen sich um die adäquaten Regeln, Wettbewerbe werden veranstaltet und recht schnell verbreitet sich in den nächsten Jahren die Tangomanie über Europa und von da aus auch nach Nordamerika (hier aber schon recht reduziert). Auch Rußland wird vom Tangofieber angesteckt.

Die Diffusion des Tangos aus den Aufnahmestudios heraus, über Tanzvorführungen, Tanzunterweisungen, das eigene Ausprobieren und Nachmachen in den Tanzlokalen, die Möglichkeiten des Platten- und Notenkaufs: Die Maschinerie der Musikindustrie läuft an und bringt auf verschiedenen Kanälen das richtige Angebot zum richtigen Zeitpunkt.

Der besondere musikalische Reiz entsteht wohl durch die raffinierte Mischung altbekannter Traditionen: Polka, das neapolitanische Tanzlied, die schon länger bekannte Habanera scheinen durch, werden gebrochen von einer intensiven, oft melancholischen, aber auch mit lustigen Wendungen ausgestatteten melodischen Struktur.

Die Spezifik des Tango manifestiert sich jedoch nicht so sehr in der Musik, sondern vielmehr im charakteristischen Tanzen. Musikalisch fällt es schwer, den frühen Tango von der Habanera, der Danza und anderen Musiken mit ähnlichen synkopischen Rhythmusmodellen zu unterscheiden.

Die europäische Tangowelle erreicht 1912/13 ihren Vorkriegs-Höhepunkt. In allen Metropolen herrscht die Tango-Mode, ein regelrechtes Merchandising etabliert sich rund um den Tango: Mode (Stoffe, Blusen, "jupes culottes" = Hosenrock, 1911 von Paul Poiret kreiert etc.), Farbe, Parfums, Gebrauchsgegenstände wie Bleistifte oder Postkarten, Events (Tangotee) u.v.a.; Tango wird umfassend vermarktet und ein wichtiges Symbol feiner Kultur (so verkehrt im Sommer ein "Tangozug" zwischen dem feinen Badeort Deauville und Paris).
[vgl. Simon Collier u.a.: Tango. Mehr als nur ein Tanz, München 1995, S. 77]

Auch die deutschen Komponisten versuchen sich, so wie vorher mit den nordamerikanischen Tanztypen, nun mit dem "original argentinischen Tango": Walter Kollo bringt 1913 El Sabo für seine Posse "Wie einst im Mai", Richard Eilenberg Die Schönen von Santa Fé (topographisch etwas daneben geraten), beide als Tanznummern oder Charakterstücke ohne Text. Von Franz Léhar kommt um 1914 der Tango La Plata. In Jean Gilberts "Thalia-Tango" Ich tanz' so gern den Tango (aus der Posse "Die Tango-Prinzessin", 1913) zeigt sich die einsetzende Nivellierung des Musikmarkts, formal folgt das Stück dem Strophe-Refrain-Muster der üblichen populären Schlager. Es versagt sich die mehrperiodische Struktur des argentinischen Tango (wenigstens 3 Perioden mit verschiedenen thematischen Gestalten, meist auch mit Wechsel des Tongeschlechts). Hier bleibt das ganze Stück in der Dur-Grundtonart F. Ausschlaggebend für die musikalische Charakteristik "Tango" ist allein das Begleitmuster im Habanera-Rhythmus. Als weiteres Indiz für Rücksichten auf modische Unterhaltungsmusikbedürfnisse (oder vielleicht auch Gewohnheit bzw. Unvermögen) wären einige Stellen des Melodieverlaufs zu nennen, an denen recht affektiert akkordfremde Töne auf Takt-Schwerpunkten eingesetzt werden. So endet eine Textzeile auf dem damals nicht gerade üblichen Ruhepunkt einer großen Sept zum Tonikaakkord. Oder im Refrain eine ausgehaltene Spannungsnote auf der None der 2. Stufe, analog antwortet dieser Phrase an entsprechender Stelle die None zur Tonika. Und es gibt weitere ähnlich Beispiele von recht spitzfindigen Reiztönen, die den Anspruch erlesener Originalität etwas allzu auffällig vor sich her tragen. Der Text verweist in selbstreferentieller Hysterie auf seine aktuelle Erfolgsgeschichte:

Vers 1:

Einstmals man sein kleines Mädel packte auf zum frohen Walzertakt!

Die noch ältere Garnitur tanzte Polka nur!

Dann die letzte Sensation der Bälle war der Wackler guter Ton!

Fragst du heut' dein Mägdelein gesteht sie ein:

Refrain:

Ich tanz' so gern, ich tanz' so gern den Tango,

man träumt so süß, man träumt so süß beim Tango!

Wie Rosen glühen purpurrot die Wangen, das Herz es springt vor Seligkeitsverlangen!

Ich tanz' so gern, ich tanz' so gern den Tango,

man träumt so süß, man träumt so süß beim Tango!

Wie Rosen glühen purpurrot die Wangen,

bei dem Tanz, bei dem Tanz, bei dem Tango Tango Tangotanz!

Vers 2:

Tangofieber alle hat ergriffen, selbst in finstern Felsenriffen,

jedes Land und jeder Stand ist aus Rand und Band!

Ob sie Lady oder ob Prinzessin, höh're Tochter oder Magd,

mag sie alt, mag jung sie sein gesteht sie ein...

Auffällig, daß dieser Tango das Tango-Tanzen in einer Weise thematisiert, als sei er die eigentliche Sensation der Gegenwart, als eine moderne, neue Angelegenheit, dazu offenbar gesellschaftliche Schranken überschreitend, eine klassenlose Unterhaltung: Vielleicht ein frommer Wunsch der Macher, daß ihr Publikum im Unterhaltungs-Theater diese Aussage als unwahrscheinliche Perspektive bestaunt. In der Realität bleibt es bei der säuberlichen Distinktion von feinen und weniger feinen Nutzern der modernen Unterhaltung.

Gilberts Tango fällt nicht heraus aus dem Standard, andere deutsche Tangobotschaften lauten ähnlich:

Etwa von Hugo Hirsch (Text und Musik), 1914: Mit Tango, da fängt man kleine Mädels ein:

Vers 1

Der Tanz in frühern Zeiten,

das läßt sich nicht bestreiten,

war wirklich etwas nüchtern,

man war da noch zu schüchtern.

In Menuett, Gavotten,

im Walzertakt, im flotten,

selbst wenn man Polka hopste,

das Menschenkind sich mopste.

Beim Cakewalktanz der Neger

war schon die Stimmung reger.

Man kam auf seine Kosten

Beim Twostep und beim Boston.

Doch noch bedeutend lieber

da wackelte man Schieber,

bis daß expreß der Tango kam

und uns in Fesseln nahm.

Refrain:

Mit Tango, da fängt man kleine Mädels ein,

beim Tango, da tanzt man in ihr Herz hinein.

Im Tango, da kann man selig sein zu zwei´n.

Auf Tango, auf Tango fällt jeder sicher rein.

Vers 2


Es blüht im Tanzgewimmel

Berlin der Tangofimmel.

Auf deinen Bummelreisen

hörst du nur Tangoweisen.

Auf allen Straßen, Wegen

grüßt ein Plakat entgegen,

wo Tango wird empfohlen -

Es ist zum Teufel holen.

Zu Haus jedoch nicht minder

tanzt Tango Frau und Kinder.

Du siehst selbst hinterm Ofen

Großmuttern Tango schwofen.

Dir brummt wie eine Hummel

der Kopf im Tangorummel,

bis daß als Kluger nach du gibst

und selbst Tango schiebst.

Vers 3

Seit Tango uns bekannt ist,

Berlin ganz plümerant ist.

Es wird der Großberliner

zum Tangoargentiner.

Selbst dort, wo Tempelhof ist,

der Tango jetzt sehr schwof ist.

Der Tango ist mal heute

der Tanz für bess´re Leute.

Tanzt Schieber Donna Rieke,

ruft Senor Ede: "Stieke".

"Paß uff und häng´ dir, Kleene,

man in die Tangobeene."

Bald kann man beide sehen

sich argentinisch drehen;

auf Tango hat der Ede Mumm

für´n Groschen einmal rum.

Er handelt von denselben Botschaften, wie sie auch Gilberts Lied propagiert, nur daß vielleicht die erotische Komponente eine etwas stärkere Betonung findet. Und es gibt einen interessanten Hinweis auf die Konkurrenz der modernen Tänze, denn Tango sei den etwa gleichzeitigen Bostons, Cakewalks, Two Steps und Schiebern überlegen an Aktualität und Qualität.
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