Ende des Walzer Jahrhunderts - SYNKOPEN-TÄNZE
Seine Komplexität und Differenziertheit der Tanzbewegungen betont die Exklusivität des Tango, unterstreicht seine besondere Fähigkeit, soziale und kulturelle Distinktion zu demonstrieren. Ein charakteristischer Bericht über eub Tangotanzpaar von K. Schwabe mit dem Titel "Tangorausch" (aus dem "Kunstwart" von 1914) lautet:
Tango hat nicht nur die Komponisten der populären Musik, der Unterhaltungsmusik beeinflußt, auch einige Vertreter der Kunstmusik begeistern sich für die Rhythmen aus Südamerika. Nicht nur Bizet findet Gefallen an der Habanera, 1892 schon gibt es einen Tango von Isaac Albeniz (noch heute wird er von Tangoorchestern gespielt!). Auch Ravel komponiert einschlägige Beispiele, wie die Habanera Sites auriculaires (1895/96), die Vocalise-Étude en forme d'Habanera (1907) und aus dem gleichen Jahr die Nr.3 Habanera aus der "Rhapsodie espagnole" (1907). Sicher kein Zufall, daß gerade zum Zeitpunkt der anlaufenden Tangowelle diese charakteristischen südamerikanischen Rhythmen Interesse erwecken. Ähnliche Stücke wären von Debussy zu nennen, auch Erik Satie hat mitgehalten mit seinem Le Tango (perpetuel), aus "Sports et Divertissements" (1914). Interessant ist zweierlei: einmal stammen diese Beispiel alle aus der europäischen Filiale Argentiniens, aus Frankreich, zum anderen liegen sie durchaus zeitlich parallel zur populären Tangobegeisterung ihrer feinen Referenzkreise, die Komponisten unterstreichen ihre Aktualität. Zeitgleiche Kunstmusik-Tangos aus Deutschland sind mir nicht bekannt. Erst in den 20er Jahren öffnen in Deutschland die jungen Komponisten ihre Ohren in nicht-akademischer Richtung und verarbeiten recht begeistert das neue Potential an interessanter Tanzmusik aus der Neuen Welt.
Tango hat möglicherweise seinen Erfolg daraus gezogen, daß er neue Formen des öffentlichen Ausdrucks von privatem Leiden, von erotisierter Kommunikation, von öffentlich formulierbarer Leidenschaft ermöglicht hat.
Der Wechsel aus den großstädtisch-proletarischen Hafenbezirken von Buenos Aires in die feinen, international ausgerichteten Kreise der europäischen Gesellschaft (dies strahlte übrigens nach Argentinien zurück) scheint komplementär zu den bürgerlichen Umgangsformen ein zwar symbolisches, aber doch von starken Gefühlen getragenes Ausleben erweiterter sinnlicher Genußbereiche darzustellen.
Allerdings ist daraufhin zu weisen, daß der frühe Tango, auch in Europa, noch nicht derart stark melancholisch, traurig und beherrscht-klagend ausgeführt wird, wie später in den 20er und 30er Jahren. [vgl. Fred Ritzel: "Schöne Welt, du gingst in Fransen!": Auf der Suche nach dem authentischen deutschen Tango, in: Hoffmann, Bernd/Pape, Winfried/Rösing, Helmut (Hg.): Rock/Pop/Jazz im musikwissenschaftlichen Diskurs. Ausgewählte Beiträge zur Popularmusikforschung, Hamburg: ASPM 1992, S.43-60]
Auffallend ist die Tatsache, daß gerade in der Vorkriegszeit, die sich durchaus krisenhaft als solche bemerkbar macht, der Tango erfolgreich ist. Und dies gerade in Europa mit seiner Untergangsstimmung in Hinblick auf die noch herrschenden alten Regierungssysteme und deren Ideologien (Österreich, Rußland, Deutschland usw.). Den Tango tanzt vor allem die herrschende Klasse, noch nicht die Masse des Mittelstandes und schon gar nicht das Proletariat.
So läßt sich auch erklären, warum (falls es stimmt) offenbar in den USA der Tango keine besondere Rolle spielte. Vielleicht gab es dort nicht diese spezielle europäische gesellschaftliche Situation und Vergangenheitsbewältigung wie in der Alten Welt mit ihren im Tango aufgehobenen "alten Großgefühlen", nicht die in Europa spürbar fatalistische Grundstimmung. [z.B. äußert sich die New York Times, 1914 ironisch: "Von der Villa Montmorency aus eroberte der Tango Europa. Verschlungene Paare vollführten mit starren Schultern die langsame argentinische Promenade. Korpulente Herren schoben sich, im rechten Winkel zu ihren Partnerinnen, mit gleitenden Schritten dahin. Dann und wann hielten sie abrupt inne, hoben einen Fuß und inspizierten die Sohle, als wären sie gerade in etwas Schreckliches getreten.", zitiert nach Collier u.a., a.a.O., S.81]
Aus Südamerika kommen noch weitere Tänze nach Europa, jedoch nur mit kurzfristigem Erfolg. Am bekanntesten wird ein Vorläufer des brasilianischen Samba, die Maxixe, zeitlich etwa parallel, vielleicht sogar etwas früher als der Tango. Musikalisch stammt sie von der Habanera ab, ähnelt der Milonga (die gelegentlich auch als brasilianischer Tango bezeichnet wird), einer schnelleren, fröhlicheren Tangovariante, mit einem Wechsel vom Marsch -Pattern zu einem Synkopenpattern (Typ "Hey Mr. Banjo"), dazu gelegentlich synkopierte Melodiephrasen. Und so wird ein entsprechender Tanztitel, nämlich der 1913 in Deutschland präsentierte Estragadà o (von Estéban Ricardo) als "Tango brazileiro" bezeichnet. Die besondere Synkopierung des Begleitmusters im dritten Teil dieses Tangos benutzt auch der junge Willy Rosen (1894-1944, gest. in Auschwitz) 1914 in seiner "Maxixe Brésilienne" "Tabarin" (vielleicht nach einem der neuen Berliner Tanzlokale benannt).
Gleichwohl gestaltet sich die europäische Rezeption der Maxixe etwas verwirrend, denn neben der eben beschriebenen brasilianischen Form mit Synkopierungen gibt es offenbar auch eine reine Marsch-Version. Als Beispiel dafür der Titel La Matchiche (Maxixe) von Charles Borel-Clerc, annonciert als "célèbre marche sur les motifs populaires espagnols" (wie von Mayol damals gesungen) - ein auch noch heute bekanntes Stück, allerdings im Stil der flotten spanischen Märsche und ohne afro-amerikanische Komponenten.
Diese frühe brasilianische Botschaft blieb nur vorübergehend bis zum Beginn des 1. Weltkriegs in Mode. Der nächste Versuch der Musikindustrie, den Samba in Europa zu etablieren, kommt in den späten 20er Jahren. Weitere lateinamerikanische Importe, insbesondere die Rumba, folgen dann schnell.
Ãœber Uns
Wir sind mehr als ein Forum! Als eingetragener Verein arbeiten wir an der Beständigkeit unserer Leidenschaft.
Ãœber unsWir suchen Dich!
Du schreibst Artikel, möchtest im Forum als Moderator aktiv werden? Dir liegt Social Media. Bewahre Wissen! Wir warten auf dich.
Schreib unsTipps
Einsteiger-Ratschläge für optimale Nutzung und wichtige Aspekte beim Grammophon und Schellackplatten-Kauf.
Zu den Informationen